SZ-Serie: Bayern-Inventar, Folge 10:Schubkraft aus der Provinz

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In der Kleinstadt Leipheim tüftelte der Schlossermeister Rudolf Wanzl am Urtyp aller Einkaufswagen, den er stetig perfektionierte und in alle Welt lieferte. Selbst der Online-Handel kommt an den Produkten der schwäbischen Metallwarenfabrik nicht vorbei

Von Anna Günther, Leipheim

Zwischen stampfenden Maschinenteilen blitzen hellrote Schweiß-Flammen auf. Es riecht nach Öl, der Lärm ist ohrenbetäubend. Arbeiter wuchten Metall hoch. Roboter übernehmen, sie heben und biegen Stahlstäbe wie Wachs. Schuften im Akkord. Frauen sieht man kaum im Werk 2. Metallverarbeitung ist immer noch Männerarbeit. Bald werden im Werk in Leipheim mehr Roboter als Menschen arbeiten. Auch das gehört zur Geschichte dieses Produktes, das viel über das Einkaufen erzählt und über Deutschlands Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Produkt, das jeder schon benutzt hat. In dem kleinen 6000-Einwohner-Ort an der Grenze zu Baden-Württemberg entstehen Einkaufswagen und Körbe aus Stahl. Das wird spätestens am Parkplatz klar: Im Garten daneben stehen zu Sesseln umfunktionierte Einkaufswagen, in der gläsernen Kantine sind sie mit weißem Leder gepolstert, im Besprechungsraum mit schwarzem.

Die Erfindung des Einkaufswagens steht für einen Wandel in der deutschen Gesellschaft, für den Umbruch vom Mangel der Kriegsjahre und der Nachkriegszeit hin zur Konsumgesellschaft. Rudolf Wanzl nennt diesen Umbruch in seinen Erinnerungen eine "Revolution für den Handel". In den Fünfzigerjahren kaufen die Menschen plötzlich nicht mehr beim Krämer um die Ecke ein, lassen sich nicht mehr die Waren über die Ladentheke reichen. Sie bedienen sich selbst in Märkten mit üppig gefüllten Regalen - und haben genug Geld, um so viel zu kaufen, dass sie ihre schweren Körbe abstellen und neben sich herschieben wollen. Rudolf Wanzl erfand ein Gestell dafür, nannte es Pick-Up und prägte damit den Einkauf bis heute. Eine Kopie dis Stahlgestells auf Rädern für zwei Körbe, wird von 2019 an im Museum der Bayerischen Geschichte in Regensburg zu sehen sein. Das Original bleibt in Leipheim.

Sein Vater hatte den Einkaufswagen erfunden. Sohn Gottfried Wanzl wuchs in der Firma auf und machte sie zum Global Player. (Foto: Ingo Jensen)

Wanzls Vater arbeitete schon im einstigen Giebau in Mähren als Schmied und Schlosser, kümmerte sich dort um die Waagen der Krämer. Die Familie musste nach dem Krieg fliehen und siedelte sich in Leipheim an. Rudolf Wanzl floh 1947 aus der Gefangenschaft in der Normandie, da war er 23. Er stieg beim Vater im Betrieb ein und wurde Schlossermeister. Gemeinsam bauten sie Waagen und kümmerten sich um die Reparatur. Aber der Sohn hatte Ideen, schweißte in der Werkstatt Körbchen und "Wägelchen", wie Rudolf Wanzl in seinen Memoiren schreibt. Der erste große Auftrag kam 1949 aus Hamburg, eine Konsumgenossenschaft bestellte für den ersten Kleinstsupermarkt 20 Wagen samt Körben. Wanzl arbeitete rund um die Uhr. Seine Frau bereitete sich derweil auf die bevorstehende Hochzeit vor. Nach der kirchlichen Trauung fuhr Wanzl die Wagen zum Bahnhof. Der Lack war kaum getrocknet, das Verpackungspapier pappte fest. Die Hamburger waren trotzdem zufrieden.

Mit den Selbstbedienungsläden nahmen auch die Aufträge zu, bald gab es in jeder großen Stadt Konsumgesellschaften wie in Hamburg. Die Firma Wanzl baute die Einkaufswagen und wuchs. 1950 meldete Wanzl mit stapelbaren Körbchen das erste Patent an. Innovativ war schon der Vorgänger. Der Griff ist noch steif, nicht klappbar, aber mit Leder bezogen für mehr Komfort: "Sehen Sie, das hat sogar eine Schale für Kleinartikel, das war schon sehr fortschrittlich", sagt Sohn Gottfried Wanzl, 63, beim Spaziergang durch die Historienabteilung in der Ausstellungshalle.

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(Foto: PR)

Der Pick-Up revolutionierte den Handel, Rudolf Wanzl tüftelte stets weiter.

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(Foto: PR)

Sogar Frau und Tochter mussten Modell stehen.

Die Durchbruch-Idee hatte Rudolf Wanzl 1951 auf einer Amerikareise. Die Heimat des Konsums und der großen Supermärkte war die USA, eine der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. Konsum war dort längst chic, als Europa noch in Schutt und Asche lag. Als Wagenbauer flog Wanzl zum Erfinder Sylvan Goldman nach Oklahoma und besichtigte die großen Konsumzentren. Auf dem Rückflug skizzierte er den "Concentra", einen am Stahlgestell festgeschweißten großen Korb. Wanzl feilte immer, aber grundsätzlich ist das Design bis heute unverändert. Sein Vater sei ein Tüftler gewesen, sagt Gottfried Wanzl, der heute den Aufsichtsrat der Firma leitet. "Er hat überlegt, wie er Dinge verbessern kann und hat den Händlern genau zugehört." Da mussten Sohn und Tochter schon mal als Fotomodel herhalten für den neuen Kindersitz. Die Kinder wuchsen in der Firma auf, das prägt. Gottfried Wanzl ist ein nüchterner Typ. Bei der Erinnerung an die Packfrauen in der Versandhalle aber wird er nostalgisch. "Das war mein Spielplatz, dort hatte ich Narrenfreiheit."

Schon als Bub lief er zwischen den Lieferwagen umher, ließ sich von den Frauen mit Leberkässemmeln "verwöhnen". Fuhr er damals auch Wagenrennen, wie es viele Kinder bis heute machen? Gottfried Wanzl stutzt. Nein, sagt er. Erst als die Firma 2012 die US-Konkurrenz schluckte, habe es ein Rennen gegeben. Als Kind? Niemals. Er musste eher extra brav sein, sagt er, als Sohn des einzigen Unternehmers am Ort.

Gottfried Wanzl stieg 1987 nach der Uni in die Firma ein. Er konnte Englisch und brachte die Metallwarenfabrik aus Leipheim in die Welt. Rudolf Wanzl konzentrierte sich auf Technik und Produktion. Wie in vielen Familienunternehmen gab es Reibereien zwischen Alt und Jung. "Wenn man so einen Übervater hat, ist das nicht ganz einfach", sagt Gottfried Wanzl. Dass die Stelle des Exportleiters verwaist war, bezeichnet er als "Glück". Die Männer kamen sich seltener in die Quere. Wanzl gilt heute als größter Einkaufswagenhersteller der Welt. Pro Jahr rollen in Leipheim 2,5 Millionen Wagen vom Band, 5000 Angestellte arbeiten in sieben Ländern.

Einkaufswagen und Körbe aus Stahl in der Endmontage. (Foto: Ingo Jensen)

Rudolf Wanzl starb 2011, sein Sohn ließ die Straße nach ihm benennen, an der die Zentrale steht. Der Vater sei scheu und extrem bescheiden gewesen. "Er hat nie über Erfolg gesprochen. Wie erfolgreich er war, hat er wohl erst im Nachhinein realisiert", sagt Gottfried Wanzl. Obwohl Wagen wie der Concentra in fast jedem Supermarkt Europas herumfahren, machen sie nur noch 35 Prozent des Umsatzes aus. Wanzl setzt längst auch auf Gepäck-, Fracht- oder Hotel-Wagen und Rundum-Lösungen: 50 Architekten konzipieren ganze Ladengeschäfte. Das nächste Kapitel in der Geschichte des Einkaufens sieht Gottfried Wanzl sogar als Chance: Online-Händler wie Zalando oder Amazon seien gute Kunden, für die eigens Logistik- oder PC-Wagen hergestellt werden. Das übernächste Kapitel, der digitale Laden ohne Personal, ist bereits im Showroom aufgebaut.

Das Exponat wurde dem Museum der Bayerischen Geschichte in Regensburg zur Verfügung gestellt, das im Mai 2019 eröffnen soll. Näheres unter www.hdbg.de

© SZ vom 14.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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