Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts war die Globalisierung voll im Gange. Arme Agrarländer wie Bayern und Böhmen wurden zum einen durch die aufkeimende Industrialisierung in diesen Strudel hineingerissen, zum anderen durch die vielen Auswanderer, die ihr Heil in der Fremde suchten. Die Spuren, die diese damals in ihren neuen Heimatländern hinterließen, werden leider immer mehr vom Staub der Geschichte zugedeckt. Dennoch machten Sprachwissenschaftler der Universität Regensburg in den vergangenen Jahren spektakuläre Entdeckungen.
Zum Beispiel, als sie in den Karpaten und in der Ukraine ganze Dörfer fanden, in denen Nachfahren von ausgewanderten Bayern immer noch die alten Lebensformen und die Sprache der Vorfahren bewahren. Sie ermöglichen den Wissenschaftlern damit einen faszinierenden Zugang zu Dialekten und Redeformen, die bei uns selbst auf dem Land längst ausgestorben sind.
Das Phänomen der alten Sprachinseln beschränkt sich aber nicht nur auf Europa. Ein Fachartikel in der Publikation "Beiträge zur Flur- und Kleindenkmalforschung in der Oberpfalz" ließ den Regensburger Germanisten Alfred Wildfeuer im vergangenen Jahr stutzig werden. Von einem böhmischen Dorf in der Südsee war dort die Rede. Postwendend machten sich Wildfeuer sowie seine Kolleginnen Nicole Eller und Astrid Christl auf die lange Reise - und wurden in Neuseeland fündig.
Bayerische Sprachinsel am Ende der Welt
Was sie dort entdeckten, ließ ihr Forscherherz höher schlagen. 50 Kilometer nördlich von Auckland stießen sie auf Menschen, die einen uralten bayerischen Dialekt sprachen. Allerdings stellten sie auch fest, dass es dieses Phänomen nicht mehr lange geben wird. Die Sprecher des Idioms sind alle über 80 Jahre alt, in der Generation ihrer Kinder ist die Tradition längst abgerissen.
Die Frage, wie diese bayerische Sprachinsel am anderen Ende der Welt zu erklären ist, führt zurück in das bayerisch-böhmische Grenzgebiet des 19. Jahrhunderts. Damals wanderten die ersten Kleinbauern nach Neuseeland aus. Der Ertrag ihrer Felder reichte kaum noch aus, um die Familien zu ernähren, als plötzlich neue Hoffnung aufkeimte. Der Gouverneur der neuen englischen Kolonie Neuseeland hatte einem österreichischen Offizier zugesagt, jedem Einwohner aus seiner Heimat 16 Hektar Land zu schenken. Also nahmen 83 Männer und Frauen anno 1863 in freudiger Erwartung Abschied von Böhmen.
Die Ankunft auf dem Puhoi River nach der 106 Tage dauernden Überfahrt muss jedoch ein Schock gewesen sein. Statt landwirtschaftlicher Nutzflächen fanden sie nur einen dichten Urwald vor. Außerdem war es kalt, und es regnete. Sie waren unter falschen Versprechungen hierhergelockt worden, aber es gab kein Zurück mehr. Wären die Aussiedler nicht von den eingeborenen Maohi unterstützt worden, wären sie wohl glatt verhungert.
Mit bloßen Händen rodeten sie die Berghänge. Erst nach 20 Jahren härtester Arbeit gelang es ihnen, eine bescheidene Landwirtschaft aufzubauen.
Die Regensburger Wissenschaftler gelangten von Auckland aus auf einer gut ausgebauten Straße weitaus bequemer in dieses Gebiet, auf dem sich heute weitläufig die Siedlung Puhoi erstreckt. Sie waren gerade noch rechtzeitig gekommen, um einzigartige Sprachaufzeichnungen von den letzten Neuseeländern zu machen, die noch Bairisch reden.
Viele bayerische Namen auf den Grabsteinen
Lange unterhielten sie sich zum Beispiel mit dem 95-jährigen Tony Bayer, dessen Dialekt an jenen in der nördlichen Oberpfalz erinnert. Für Begriffe, die es in seiner alten Sprache nicht gibt, verwendet er Mischformen. Zum Duschen sagt er: "wo 's me showern doud." Den Pfirsichbaum nennt er Pietschnbaam. Und das Bächlein heißt bei ihm Crickl (auf Englisch: creek).
"Vor allem die Hybridformen dieser Sprache sind hochinteressant", sagt Wildfeuer. Das Hochdeutsche verstehen die Neuseeländer nicht, sie kennen nur ihren Stammdialekt.
Es gibt in Puhoi durchaus Bestrebungen, diese einzigartige Tradition zu erhalten. Ein Bohemian Museum zeigt Egerländer Brauchtum und Tracht, mitten in einem anglikanisch geprägten Umfeld steht eine katholische Holzkirche und außerdem besitzt Puhoi das einzige Marterl von Neuseeland. Auf den Grabsteinen sind viele bayerische Namen zu lesen, unter anderem auch jene von Gefallenen des 1. Weltkriegs: Martin Schischka, Franz Bayer, Georg Bayer, John Turnwald. Sie kämpften an der Seite Englands gegen Deutschland.
Dass ihr Dialekt in dem englischsprachigen Umfeld in Vergessenheit geriet, ist normal. Allerdings hatten die Weltkriege das Deutschtum auch im Südpazifik in Verruf gebracht. Aus Furcht vor Repressalien sprachen die Nachkommen der Einwanderer mit den Kindern nicht mehr Deutsch. Bald wird dieses wundersame Kapitel endgültig beendet sein. (Alfred.Wildfeuer@sprachlit.uni-regensburg.de)