Spirituelle Bewegungen:Mit Geistern auf Du und Du

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Helga Linse trifft sich mit Verstorbenen, glaubt an Heiler und ist damit nicht allein: Die Zahl der Spiritisten wächst. Das freut die Esoterikbranche - und alarmiert die Sektenbeauftragten.

Hans Kratzer

"Ich spüre es deutlich", flüstert Helga Linse, "unsere Verstorbenen sind ganz nah." Frau Linse wohnt gerade einem Gottesdienst im Münchner Stadtteil Hasenbergl bei, und sie scheint nicht die Einzige zu sein, die eine Botschaft aus dem Jenseits erwartet. Außer ihr haben sich an diesem Sonntagabend noch ein paar Dutzend spirituell orientierte Menschen in den schmucklosen Gemeindesaal begeben, überwiegend gesetztes Bürgertum fortgeschrittenen Alters.

Gespräche mit Toten: Die ehemalige Lehrerin Helga Linse glaubt an die Existenz einer geistigen Welt und daran, dass ihr eine Heilerin das Leben gerettet hat. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Gruppe nennt sich Christlich-Spirituelle Bewegung, einmal monatlich feiert sie hier einen Gottesdienst. Obwohl Helga Linse die Nähe der Verstorbenen spürt, wirkt die Gemeinde um sie herum recht unaufgeregt. Denn für diese Menschen ist der Kontakt zu Verstorbenen das Normalste auf der Welt, sie glauben felsenfest an ein Fortleben nach dem Tod.

"Unsere materielle Existenz ist das eine", sagt die pensionierte Lehrerin Linse, "aber daneben gibt es noch eine geistige Welt, eine andere Dimension, ein göttliches Bewusstsein." Ihr Credo vertritt Helga Linse mit einer Selbstsicherheit, die jeden Zweifel abperlen lässt wie die Fensterscheibe den Regentropfen.

"Man muss erst lernen, die geistige Welt wahrzunehmen", erklärt Frau Linse beim Gottesdienst der spirituellen Gemeinde. Es ist fast wie bei einer christlichen Messe, es erklingen Predigt, Gebet und Gesang, erst danach treibt das Geschehen seinem Höhepunkt zu, der auf einen unbedarften Beobachter freilich durchaus verstörend wirkt. Frau Linse lässt sich von Zweifeln nicht irritieren: "Ich hab' auch viele Jahre gebraucht, bis ich das alles verstanden habe", sagt sie.

Hinter dem in blauen Samt gehüllten Altarpult steht das Medium, das den Kontakt zu den Toten herstellt. "Es ist eine Gabe, die nur wenige Menschen besitzen", sagt Frau Linse. Ein Blick ins Lexikon verrät, dass solche Fähigkeiten schon im 19. Jahrhundert bekannt waren. Mit dem Aufkommen des Spiritismus tauchte auch das Phänomen "Medium" auf, Menschen also, die angeblich Botschaften von Verstorbenen empfangen können.

Vom Übersinnlichen verändert

Das Medium im Gemeindesaal heißt Paul Meek, stammt aus Wales und lebt seit geraumer Zeit in München. Meek war früher Opernsänger, 1993 aber hat er die Bühne verlassen, um sich als Pastor der britischen "Spiritualist Church" nur noch seinen übersinnlichen Fähigkeiten zu widmen, die, so heißt es, schon in seiner Kindheit aufgefallen waren.

Wer Meek zuhört, muss zugeben, dass der Mann verständlich predigen kann. Viele Menschen verstehen den Tod nicht, sagt er, "sie haben Angst vor dem Tod, Angst vor der Zukunft. Sie wissen nicht, dass sie das ewige Leben haben". Helga Linse weiß sich eng verbunden mit Meeks Gedankenwelt. Das Übersinnliche hat ihr Leben völlig verändert.

Vor gut 20 Jahren war sie schwer krank, damals hat ihr eine Heilerin aus dem Allgäu die Gesundheit zurückgegeben, so glaubt sie. "Sie hieß Hetty und hat einzigartige Fähigkeiten besessen", erzählt Linse. Sie wurde von Hetty tief geprägt, deshalb hat Helga Linse diese Frau jahrelang begleitet, nach deren Tod schrieb sie ein 235 Seiten starkes Buch über deren Leben und Wirken, Titel: Die Gottesgabe.

Im Gemeindesaal verkündet Meek jetzt die Botschaften, die er von den Toten empfangen hat. Allerdings richtet er sich nur an wenige Auserwählte. Eine mediale Kontaktaufnahme kostet offenbar enorm viel Kraft. Fünf Anwesende erfahren, dass sich verstorbene Angehörige gemeldet haben. Meek hat sie nur schemenhaft wahrgenommen, wie er der Gemeinde mitteilt. Es bedarf einiger Nachfragen, bis klar ist, welche Verstorbenen sich gemeldet haben.

Einer Frau rollen Tränen über die Wangen, als Meek ihr die Nachricht ihres toten Vaters übermittelt: "Er lässt Ihnen sagen, es geht ihm gut." Sonst bleiben seine Auskünfte eher im Vagen - und Parapsychologen wie Walter von Lucadou urteilen, die Aussagen von solchen spirituellen Medien seien meist so allgemein, dass sie jeder sagen könne.

Das Bild von den grauen, unheimlichen Schemen, wie Meek es schildert, erscheint gerade so, als sei es der Phantasie des Edgar Allan Poe entsprungen. Es wirkt alles ziemlich trostlos, bar aller paradiesischen Freude. Es gehe ihnen gut, teilen die Toten mit, aber ihre dürren Trostworte lösen, salopp gesagt, nicht unbedingt eine große Vorfreude auf eine ewige, graue Schemen-Existenz aus.

Die moderne Gesellschaft ist auf ihrer Sinnsuche dennoch geneigt, das Reich des Übersinnlichen in rosigeren Farben zu sehen. Die Anhängerschar der Kirchen bröckelt, der von der Esoterik bestückte Markt wächst. Laut einer Studie der Universität Hohenheim zählen bereits zehn bis 15 Prozent der Deutschen zur Gruppe der spirituellen Sinnsucher, die sich außerhalb der Religionen umsehen. Die Esoterikbranche wird in diesem Jahr bundesweit schätzungsweise 25 Milliarden Euro umsetzen.

Von nackten Zahlen lässt sich Helga Linse nicht irritieren. Die Heilerin Hetty habe ihr Leben gerettet, allein das zähle für sie. Von Hetty, so sagt sie, habe sie auch ihren inneren Führer bekommen. Der Kosmos des Übersinnlichen ist reichlich unüberschaubar. Darin wimmelt es vor Geistheilern, medialen Kreisen, Chakren, Schwingungen, Vorahnungen, Karma-Prozessen, Quantenheilungen und derlei Dingen mehr. Da brummt dem ungeübten Zuhörer schnell der Kopf.

Helga Linse ist auf einem Bauernhof nahe Straubing aufgewachsen. Der Vater erlebte zwei Weltkriege und verlor dabei seinen Glauben an Gott. Davon geprägt, stellte sich seine Tochter von klein auf die Frage nach dem Sinn des Lebens: "Die Wissenschaft gab mir aber keine befriedigende Antwort."

Vor allem die Erfahrungen auf ihren vielen Reisen überzeugten Helga Linse, dass die materielle Welt nur einen Teil unserer Existenz darstellen könne. Sie sah die Indianer, die sich bei den Seelen der von ihnen getöteten Tiere entschuldigten, sie beobachtete, wie sich die Tibetaner mit Fähnchen gegen böse Geister schützten, um wenige Tage später auf dem rational durchgestylten Flughafen in Frankfurt den maximalen Kontrast zu erleben. Sensible Menschen wie Linse reagieren auf solch extreme Kulturbrüche aufgewühlt.

"Der Verstand will Profit und Kontrolle, die Seele aber will Liebe", sagt Linse. Umso mehr beunruhigt sie, dass die moderne Zivilisation einseitig auf den Verstand fokussiert sei, was all die negativen Folgen vom Ellbogendenken bis hin zur Umweltzerstörung nach sich ziehe. "Wir tragen einen Schatz in uns, aber unsere Kultur unterdrückt ihn", sagt Linse am Ende des Gottesdienstes.

Sie will deshalb mithelfen, eine Balance zwischen geistiger und materieller Welt herzustellen, dafür meditiert, betet und lernt sie jeden Tag. "Hetty prophezeite, dass eines Tages Leute zu mir kommen werden, die in einer Lebenskrise sind." Aber noch ist es nicht so weit, noch steckt sie in einer jahrelangen Ausbildung. Der auf dem weiten Feld der Esoterik häufig mitschwingende Verdacht des schnellen Profits trifft auf Helga Linse gewiss nicht zu.

Die Gottesdienstbesucher umarmen sich, sie wirken beglückt und gestärkt durch das Erlebte. Der Dichter Oskar Maria Graf sagte einmal, dass der Mensch eine unergründliche Fehlleistung der Schöpfung sei, wie ein Blatt im Wind hilflos ausgeliefert den Mächten seiner Herkunft. Helga Linse glaubt das nicht, sie hat nach einem schwierigen Lebensweg zu ihrer Bestimmung gefunden. Vieles, was sie sagt, klingt einleuchtend, etwa wenn sie von der Zerstörungswut des Materialismus spricht, vom Verlust des alten Schamanenwissens.

Aber es gibt eben auch Kritiker wie die Hamburger Sektenbeauftragte Ursula Caberta, die einen religiösen Verbraucherschutz fordert, um der vagabundierenden Spiritualität Herr zu werden. "Wir schützen die Menschen heute besser vor Gammelfleisch als vor denen, die es auf ihre Psyche abgesehen haben", sagte sie kürzlich in einem Interview.

Frau Linse vertraut trotzdem auf ihre Heilerin Hetty: "Wer heilt, hat recht. Und Hetty heilte sogar Unheilbare." So bleibt Helga Linse in ihrer eigenen Welt - der Welt, die für sie die wahre ist.

© SZ vom 03.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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