Nürnberg:Agnes und der Engel

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Im Germanischen Nationalmuseum arbeiten Wissenschaftler wie Detektive, um mit modernster Technik mittelalterlicher Kunst ihre Geheimnisse zu entlocken

Von Anne Kostrzewa, Nürnberg

Viel Besuch hatte die heilige Agnes nicht. Selbst für die Kunsthistoriker des Germanischen Nationalmuseums war die hölzerne Gemäldetafel in der Ausstellung nichts Besonderes. Niemand ahnte, dass das spätmittelalterliche Gemälde ein über Jahrhunderte gehütetes Geheimnis wahrte. "Als ich es dann entdeckt habe, konnte ich es kaum fassen", erinnert sich Katja von Baum. "Agnes ist nicht die einzige auf dem Gemälde, da ist noch jemand!"

Was die Restauratorin entdeckt hat, ist mit bloßem Auge nicht zu erkennen. Dass es Baum dennoch gelang, Agnes' Geheimnis zu lüften, verdankt sie einem der umfangreichsten Forschungsprojekte des Nationalmuseums. Seit drei Jahren untersuchen Kunsthistoriker und -technologen in einem aufwendigen Verfahren die Museumsbestände deutscher Tafelmalerei, etwa 250 meist religiöse Artefakte, wie Altartafeln, Reliquien- und Hausaltäre. Die Wissenschaftler wollen wissen, mit welchen Techniken die Künstler im 13. bis 15. Jahrhundert arbeiteten, um die Tafeln zu fertigen. Sie erhoffen sich daraus auch neue Erkenntnisse zur religiösen Praxis im Spätmittelalter. Und manchmal, wie bei Agnes, kommen sie dabei sogar einem lange verborgenen Geheimnis auf die Spur.

Die Werke finden dafür, eines nach dem anderen, den Weg in den zweiten Stock des Museumsbaus. Dort sitzt das Institut für Kunsttechnik und Konservierung mit seinen insgesamt zwölf Werkstätten. Der warme, etwas muffige Geruch nach altem Holz hängt in der Luft, es herrscht geschäftiges Schweigen in den breiten, lichtdurchfluteten Fluren. Hier also lösen die Kunstdetektive von Nürnberg ihre Fälle.

Die entrahmte Gemäldetafel der sachlich dreinschauenden Agnes steht mitten im Raum auf einem Stativ, daneben eine riesige Röntgenaufnahme, die Agnes' verborgenen Begleiter offenbart: den Verkündigungsengel. Seine Flügel ragen hinter der Heiligen empor, den Kopf hält er, von Agnes abgewandt, gesenkt. "Ausgehend von dieser Entdeckung habe ich das Bild genauer unter die Lupe genommen", sagt Katja von Baum. "Man tritt in Beziehung mit dem Gemälde, man lernt es kennen, macht es nackt. Man ist dann per du mit ihm." Beim Nacktmachen der Agnes offenbarte sich Baum fast die gesamte Entstehungsgeschichte der Tafel.

Dass der Engel komplett übermalt wurde, erschien ihr unwahrscheinlich, obwohl Restaurieren im Mittelalter meist Übermalen bedeutet habe. "Im oberen linken Eck ist auf dem Röntgenbild ein weißes Rechteck auszumachen", sagt Baum. "Schaut man dort beim Gemälde genau hin, sieht man eine Erhebung: ein Scharnier." Daraus schlussfolgerte die Restauratorin, dass Agnes' Tafel einst zu einem Altar gehörte. Auf der einen Seite war die Heilige abgebildet, auf der anderen der Engel.

Dass die Zeichnung des Engels heute hinter der schwarz bemalten Rückseite verschwindet, ist für die Kunsthistoriker ein weiterer Hinweis: Wie so viele religiöse Werke wurde wohl auch die Tafel der Agnes im Zuge der Säkularisation auseinandergenommen und landete, zurechtgeschnitten und eingerahmt, als Sammlerobjekt bei einem Liebhaber an der Wand.

"Wir wollen die Stücke mit ihrer Geschichte begleiten", sagt Oliver Mack, Leiter des Instituts. Sein Traum ist es, mit dem Projekt Fragmente zusammenzubringen, die einst zusammengehörten. "Das muss nicht hier passieren, aber wir wollen zu diesem Traum einen Beitrag leisten." Alle untersuchten Werke werden deshalb in eine ständig aktualisierte Online-Datenbank aufgenommen. Darin werden auch kleinste Details erfasst. Die Hoffnung der Nürnberger: Kunsthistoriker aus aller Welt könnten in einem hier entdeckten Detail den entscheidenden Hinweis sehen, dass ein Teil ihrer Sammlung einst zu einem Nürnberger Fragment gehörte.

Um die Tafeln möglichst umfassend zu analysieren, greifen die Nürnberger Forscher auf eine Vielzahl technischer Hilfsmittel zurück. Die Röntgen-Untersuchung ist dabei nur der Anfang. Um jedes Werk kümmern sich stets ein Kunsttechnologe und ein Kunsthistoriker. Dieser durchforstet zunächst die Archive nach allem, was zu dem Gemälde bereits bekannt ist. Unterdessen geht der Kunsttechnologe der Tafel bereits auf den Grund - im wahrsten Wortsinn, wie Lisa Eckstein erklärt. Sie steht im Fotoraum der Werkstatt vor einer länglichen Tafel, die ein knappes Dutzend Heilige zeigt. Alle in einer Reihe. Mäntel, Stäbe. Wieder so ein Werk, in dem man am Museum wohl zu schnell vorbeiginge.

"Das Besondere liegt hier unter der Farbschicht", sagt Eckstein. "Jemand hat unter jeder Farbfläche Anweisungen notiert, mit welchem Farbton dieser Bereich ausgemalt werden soll." Sichtbar machen kann Eckstein das mithilfe der Infrarot-Reflektografie. Diese schaut nicht, wie beim Röntgen, komplett durch das Werk hindurch, sondern nur durch die oberen Schichten. Und tatsächlich: Unter dem grünen Mantel wird ein skizziertes Blatt sichtbar - Baum, Blatt, grün anmalen, bitte. Unter einem azurit-farbenen Gewand ist ein Symbol zu erkennen, das einer Acht gleicht. In der Werkstatt stand es offenbar für eben diesen Blauton.

Noch mehr wird sichtbar, wenn Eckstein im Fotoraum das Licht dimmt und die UV-Lampe auf das Gemälde richtet. In den Gewändern zeigen sich plötzlich Schattierungen und Falten, Gesichtszüge treten deutlich hervor. Auch ein Wappen wird sichtbar. Doch zu welchem Haus mag es gehören? "Dazu müssen wir jetzt ganz nah heran", sagt Beate Fücker. Die Kunsttechnologin sitzt vor einem Mikroskop, das mit seinem langen Schwenkarm an die Lampe beim Zahnarzt erinnert. Damit kann Fücker bestimmte Bereiche auf den Tafeln so stark vergrößern, dass sie selbst übermalte oder verblichene Farbtöne noch deutlich zuordnen kann: Das Wappen gehört zu einer im Mittelalter sehr wohlhabenden Nürnberger Stifterfamilie. Selbst die Herkunft der Holzplatte kann Beate Fücker so rekonstruieren. "Viele kleine Informationen, die wir bei unserer Analyse sammeln, haben zusammengenommen plötzlich Sinn", sagt Fücker. "Und jede Entdeckung ist ein Ansporn, weiterzumachen. Weil hinter jeder Tafel eine Geschichte auf uns wartet."

Die Geschichte der Agnes soll auf einer Infotafel im Museum nacherzählt werden. Jetzt, da ihr Geheimnis gelüftet ist, könnte die Heilige bald mehr Besuch bekommen.

© SZ vom 16.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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