Mitten in Bayern:Krachende Stille am Neujahrstag

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Die ruhigsten Stunden des Jahres beginnen nach dem Verglühen der letzten Silvesterkracher. Dann wird es still im Land. Bis die Böllerschützen antreten. Sie vertreiben die bösen Geister - sogar jene aus dem Internet

Kolumne von Hans Kratzer

Das einst so beschauliche Bayern hat sich im Soge des Fortschritts in ein wahnsinnig lautes Land verwandelt. In vielen Städten und Gemeinden ist Stille mittlerweile ein Fremdwort. Sie sind umgeben vom Lärm, rund um die Uhr rollen, quietschen, krachen und brummen Schwerlaster, Lieferwagen, Züge und Industriemaschinen. Der Mensch hat sein Verhalten an diese Hektik angepasst. Deshalb kommuniziert er, etwa beim Telefonieren in der Öffentlichkeit, atemlos und in kolossaler Lautstärke. Äußert er sich schriftlich, etwa auf digitalen Kampfarenen wie Facebook, dann kompensiert er die fehlende Lautmalerei durch Grobheiten im Ausdruck. Einmal im Jahr aber, am Morgen des Neujahrstags, kommt der Zinnober zum Stillstand. Nach dem Krachjuchee der Silvesternacht herrscht ausnahmsweise Ruhe im Land, wenn auch nur für kurze Zeit.

Wer das Privileg genießt, am ersten Tag des Jahres in die Arbeit fahren zu dürfen, den überkommt auf den verlassenen Landstraßen und Autobahnen unweigerlich das Gefühl, als schwebe er durch die Weiten Sibiriens. Ganz allein umfängt den Fahrer jene Welt, die ihn an normalen Tagen mit endlosen Staus, Stellwerksstörungen und ungeduldigen Pendlerhorden bedrängt. Jetzt aber grüßt ihn lediglich der graue Himmel, der sich über die stille, verlassene Landschaft spannt. Endlich darf das stressgeplagte Land einmal durchschnaufen. Mit dem legendären Buchtitel des Dichters Helmut Zöpfl möchte man auf die leere Autobahn hinausrufen: "Geh weida, Zeit, bleib steh!"

Aber schon dreht sich das Radwerk des Weltenlaufs weiter. Von Neujahrskonzerten und Skisprungübertragungen aus allen Träumen erweckt, hat Turbo-Bayern wieder Fahrt aufgenommen. Im Grunde genommen hat ihm eine allzu lange Stille ja nie behagt. Krachen lassen, das ist in Bayern ein archaisches Ritual. Bis Dreikönig ziehen sich die Rauhnächte hin, sie sind erfüllt von Geistern und Dämonen, die sich leider nur durch Krach und Lärm vertreiben lassen. Mehr als 10 000 Böllerschützen schützen das Land Bayern am Neujahrstag vor bösen Mächten. Die Generation der Smartphonesüchtigen, die für die Natur kein Sensorium mehr besitzt, müsste den Schützen unbedingt Dank entgegenbringen. Auch das Internet ist voll von bösen Geistern.

© SZ vom 02.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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