Kulmbach:Haus der Hoffnung

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In Oberfranken finden schwer misshandelte Kinder Obhut. Die Heilung ihrer seelischen Wunden kann Jahre dauern

Von Anja-Maria Meister, Kulmbach

Manchmal verabschiedet sich Mara aus der Realität. Mitten im Abendbrot-Trubel im "Kinderhaus Sternstunden" wird das sechsjährige Mädchen dann ganz ruhig, spricht nicht mehr, bewegt sich nicht mehr, erstarrt geradezu vor dem nicht angerührten Teller. Udo Dirks, 37, Traumapädagoge und Leiter des Hauses für schwer traumatisierte Kinder in Kulmbach, muss Mara dann wieder herausholen aus ihrer Erstarrung. "Ich weiß noch nicht, was genau der Auslöser ist, aber das ist in dem Moment auch nicht wichtig. Es geht dann erst einmal darum, wieder Kontakt aufzubauen." Mittlerweile - Mara ist seit November in der Obhut der Geschwister-Gummi-Stiftung, die das Kinderhaus betreibt - gelingt das ganz gut. So wie neulich: Dirks sprach mit Mara, ganz ruhig. Während die anderen sechs Kinder und drei Erzieher weiter aßen, bat er: "Wackle mit dem Daumen, wenn du mich hörst". Mara wackelte mit dem Daumen. Dann fragte er, ob sie aufstehen könne. Ein kaum merkliches Kopfschütteln. Der Traumapädagoge hob das Mädchen von der Sitzbank und führte es in den Garten. Dort, unter einem Baum sitzend, kam Mara langsam zurück in die Realität. In eine ohne Bedrohung.

Die schafft das Sternstundenhaus: eine sichere Welt für Kinder mit schweren Traumata. Alle 13 Mitarbeiter haben eine traumapädagogische Aus- oder Weiterbildung absolviert. Pro Kind ein Pädagoge - in einer herkömmlichen heilpädagogischen Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe ist einer für mindestens zwei Kinder zuständig. Aber wichtiger als der Personalschlüssel ist der pädagogische Ansatz: "Es geht bei uns nicht vorrangig um Erziehung, sondern um Beziehung. Wir fragen, was braucht das Kind? Und nicht so sehr, was geben wir dem Kind mit, damit es in der Gesellschaft funktioniert?", erklärt Dirks. "Wir müssen erst einmal eine Beziehung zu dem Kind aufbauen, ihm Sicherheit geben. Ich zeige, ich bin da, auch wenn Du eine Stunde schreist."

Das heißt, dass im Sternstundenhaus anfangs extreme Verhaltensweisen akzeptiert werden. "Wenn ein Kind seine Suppe durch den Raum wirft, dann müssen das unsere Mitarbeiter im Extremfall aushalten", sagt Karl-Heinz Kuch, Geschäftsführer der Geschwister-Gummi-Stiftung. Diese ist auch Träger von herkömmlichen Wohngruppen, daher weiß er: "Schwer traumatisierte Kinder sind in heilpädagogischen Einrichtungen nicht tragbar. Mit Regeln kommen sie nicht klar, und es eskaliert." Nicht alle Kinder ziehen sich zurück, so wie Mara. Manche werden extrem aggressiv. Sie spiegeln, was sie erlebt und erlernt haben - und das waren nicht Liebe und Zuwendung.

Die Möbel vermitteln Stabilität. (Foto: Diakonie)

Der Aufenthalt im Sternstundenhaus ist nicht zeitlich begrenzt, aber drei Jahre sind laut Kuch "wohl das Minimum". Wenn die traumapädagogische Betreuung gefruchtet hat, können die Kinder in eine Wohngruppe umziehen. Erst dort klärt sich, ob eine Rückkehr in die Familie möglich ist. Ziel der Traumapädagogik ist, das Erlebte soweit aufzuarbeiten, dass das Kind stabil ist und mit dem Erlebten leben kann. "Denn das geht ja nicht weg, es wird immer Teil seiner Biografie sein", betont Dirks.

Mara zum Beispiel erlebte Vernachlässigung, Schläge, Missbrauch. Oder Nils, der fünfjährige Sohn einer Drogenabhängigen: Ihm streute die Mutter Chilipulver auf die Zunge, wenn sie ihn bestrafen wollte - oder wenn er sie einfach nur nervte. Nils wurde schon als Dreijähriger tagelang allein in der Wohnung gelassen und hat dann Reste aus dem Mülleimer gegessen, weil der Hunger so unendlich groß wurde. Oder Susi, die mit ihren neun Jahren sofort mit anzüglichen Bewegungen beginnt, sobald sie einem erwachsenen Mann nahe kommt. "Sie hat gelernt, lieber biete ich mich an, als dass ich mit Gewalt gezwungen werde", berichtet Dirks.

Wer für solche Kinder eine Einrichtung in Bayern sucht, tut sich schwer. Kuch sagt, das Haus in Kulmbach sei das einzige in Nordbayern mit traumapädagogischem Ansatz, das Kinder schon ab drei Jahren aufnimmt. Das Sozialministerium nennt zwei Häuser in Süd- und Ostbayern, hat aber keinen Gesamtüberblick. Es verweist auf die zuständigen Landkreise und kreisfreien Städte.

Dabei wächst der Bedarf, sagen die Fachleute: Stephanie Steinmann, stellvertretende Chefärztin der Bayreuther Kinder- und Jugendpsychiatrie, arbeitet eng mit dem Sternstundenhaus zusammen. Sie sagt: "Die Kinder, denen in heilpädagogischen Wohngruppen nicht geholfen werden kann, werden immer jünger." Und Kuch stellt fest: "Wir haben immer mehr Kinder, deren Störungen größer sind, deren Misshandlungen gravierender sind, deren Eltern größere Defizite haben, als das noch vor fünf Jahren der Fall war." Zwar sagt das Sozialministerium: "Zahlen hierzu liegen uns nicht vor", aber die Statistik vermittelt zumindest einen Eindruck vom Ausmaß der Tragödie: Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, bei denen das Jugendamt "vorläufige Schutzmaßnahmen" wie Inobhutnahme anordnete, lag 2003 bei 1668. Bei 1176 drohte eine "Gefährdung des Kindswohls". 2013 dagegen waren es fast doppelt so viele: nämlich 2841 Schutzmaßnahmen, davon 2329 wegen Gefährdung.

Das Sternstundenhaus in Kulmbach. (Foto: Diakonie)

Es sind also mehr Einrichtungen der Art nötig, wie sie in Kulmbach entstanden ist. Knapp vier Millionen Euro hat sie gekostet, finanzielle Unterstützung kam unter anderem von der Landesstiftung, der Oberfrankenstiftung und dem Hilfswerk des Bayerischen Rundfunks, daher der Name "Kinderhaus Sternstunden".

Das ist genau genommen ein Doppelhaus auf einem 3000 Quadratmeter großen Hanggrundstück mit Blick auf die Kulmbacher Altstadt und die Plassenburg. Hinter dem Haus alte Bäume, ein großer Garten. Kinderräder lehnen an der Hauswand. Ein Sandkasten, eine Rutsche, ein Trampolin: Die Kinder, die hier leben, brauchen viel Bewegung. Es sieht nahezu perfekt aus. Doch Dirks betont: "Wir machen hier nicht auf heile Welt, wir bieten aber eine sichere Welt."

Die Kinder sollen wegkommen von dem Gefühl des Ausgeliefertseins, sagt er auch. Das fängt schon bei Kleinigkeiten an, die sie selber entscheiden dürfen: Wohin geht der Ausflug, was nehme ich mit ins Freibad, was gibt es zum Abendessen, wer bringt mich ins Bett? Im Moment leben dort drei Mädchen und zehn Jungen zwischen vier und zehn Jahren in zwei Wohngruppen, einer pro Doppelhaushälfte, und wie in einer Familie: Jedes Kind hat ein eigenes Zimmer, morgens geht es zur Schule oder in den Kindergarten, und mittags wird zusammen gegessen. Danach sind Hausaufgaben, Freizeitaktivitäten oder Therapieeinheiten angesagt.

In dem Haus gibt es Therapiezimmer, eine Turnhalle im Keller und einen Toberaum. Dessen Wände sind gepolstert, die Kissen, Würfel und Wandpaneele sind in den warmen Farben Ocker, Orange oder Beige gehalten. In den Gemeinschaftsräumen herrschen helle Holzfarben und Grün vor. Udo Dirks erklärt: "Weil eine Farbe aggressives Verhalten triggern kann, haben wir uns für die entschieden, die in der Natur am meisten vorkommt." Auffällig geräumig ist das Haus: Jeder Raum im Erdgeschoss ist einsehbar, trotzdem wirkt es gemütlich mit vielen Kissen, Sitzbänken und Couches zum Lesen, Kuscheln, Spielen. Auffällig auch die Gänge: Sie sind mit 1,80 Metern besonders breit, man kann sich im Vorbeigehen ganz gut aus dem Weg gehen. Das ist so beabsichtigt: "Für viele Kinder ist Berührung bedrohlich, mit schwierigen Erfahrungen verbunden, selbst wenn es nur ein flüchtiges Streifen ist", sagt Dirks.

Viel Licht soll Angst vertreiben. (Foto: Diakonie)

Auch die Beleuchtung ist mit Bedacht gewählt: Halogenlampen in der Decke sorgen dafür, das kein Schrank einen dunklen Schatten wirft, dass keine dunklen Ecken entstehen. Die Möbel sind auffällig stabil, der Esstisch neben der offenen Küche hat eine fast fünf Zentimeter dicke Platte. "Auch die Möbel sollen ausstrahlen, was wir den Kindern hier geben wollen: Stabilität", so Kuch. Und wenn etwas kaputt ist, wird es sofort repariert. "Das soll etwas vermitteln", erklärt Dirks: "Man kann Dinge reparieren. Auch Verletzungen."

Die Namen der Kinder wurden geändert.

© SZ vom 11.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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