Ichenhausen:Schaukochen und Boxkampf

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Der alte Festsaal in Ichenhausen war voller Treiben: ob roh oder fein

Von Lisa Schnell, Ichenhausen

Georg Abt erinnert sich noch, wie er den Trubel im großen Saal geliebt hat. Er war fünf, der Sohn vom Wirt, vom "Weißen Ross" direkt zwischen Schloss und Kirche in Ichenhausen bei Neu-Ulm. Viel Zeit, um auf ihn aufzupassen, hatten seine Eltern zwischen Bierausschank und Küche nicht. So bemerkten sie nicht, wie Abt sich als kleiner Bub in die Lüftungsschächte über der Stuckdecke in den Festsaal schlich. Und wunderten sich wohl, warum so mancher Gast sich beschwerte, dass ihm seltsame Dinge von der Decke in das Schampusglas ploppten.

Heute gibt es unter den rustikalen Holzdecken des Wirtshauses Spaghetti und angeblich den besten Kaffee der Stadt. Die eigene Brauerei mussten sie aufgeben, den Saal im Hinterhofgebäude will Abt um jeden Preis erhalten. Denn kaum etwas spiegelt die Geschichte seiner Stadt so wider wie dieser Festsaal. Sein Programm über die Jahre liest sich wie ein Geschichtsbuch.

In dem Raum mit den hohen Decken, Holzdielen und Stuck an den Wänden wurden die neuesten, technischen Errungenschaften der Moderne vorgeführt. Im Jahr 1899 sollte der Kinomatograph "sensationelle Vorstellungen à la Deutsches Theater in München" bieten, so versprach es eine Zeitungsannonce. Gute Plätze gab's für 50 Pfennig, der Stehplatz kostete 20. In den Zwanzigern die nächste Fortschrittsnachricht: Es gab Strom in der Küche. Um aufzuklären, wie die gute Hausfrau die Herausforderung bewältigt, veranstalteten die Elektrizitätswerke München-Landshut 1927 im Festsaal ein "Elektrisches Schaukochen". In den gleichen Jahren sangen die Mitglieder des jüdischen Gesangsvereins "Zion" dort, spielten Juden und Christen zusammen Theater - ein Beispiel dafür, wie unvorstellbar die Hitler-Diktatur an manchen Orten Ende der Zwanzigerjahre noch war. Während ihr reckten Parteimitglieder im Festsaal ihren Arm zum Hitlergruß, nach Kriegsende erklang am gleichen Ort schon wieder Jazz, unter den Nazis als "Negermusik" verpönt. An einem anderen Tag drehten sich in den Fünfzigern wild verkleidete Faschingsnarren über die Dielen, am nächsten wurde ein Boxring aufgebaut. Nach dem Turnier schnell das Blut weggewischt und weiter. Bei seinem Anblick hätten die feinen Damen bestimmt die Nase gerümpft, die schon bald zur Modenschau kamen.

Alles Treiben in der Stadt, ob roh oder fein, im Festsaal prallte es aufeinander. Wer es kannte, dem blutete das Herz, als der Saal in den Sechzigern zur Fabrikhalle wurde, um dort Büstenhalter zusammenzunähen. In den Achtzigern zog ein Fitnessstudio samt Sauna in den edlen Raum. Erst 1990 schaffte es Abt, zu den Anfängen zurückzukehren. Er machte aus dem Festsaal eine Kleinkunstbühne. Mehr als 20 Jahre spielten sie wieder Theater. Ohne Kultursubventionen und mit viel Lust an der Kunst. "Wenn die roten Zahlen sich da in Grenzen halten, freut man sich", sagt Abt. Doch 2014 ging ihm der idealistische Atem aus. Gerade gönnt er sich und seinem Saal eine "künstlerische Pause". Auf Anfrage führt er aber jeden gerne in den edlen Raum.

© SZ vom 12.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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