Seit ein paar Tagen schon schläft Benjamin Temkin schlecht. "Ich bin zu aufgeregt", sagt der 61-jährige Israeli am Telefon. Im November 1941 entkam sein Vater Moisej wie durch ein Wunder dem Massaker an kriegsgefangenen Sowjetsoldaten am "SS-Schießplatz Hebertshausen". Wie viele andere Juden wanderte er mit seiner Familie Anfang der Neunziger Jahre nach Israel aus und lebte bei Netanja, eine halbe Autostunde von Tel Aviv entfernt. "Seine Freude wäre grenzenlos gewesen, hätte er diesen Tag erleben dürfen", sagt Benjamin Temkin. Anstelle seines Vaters, der 2007 starb, fährt er jetzt nach Dachau. Am Freitag eröffnet die KZ-Gedenkstätte den neu gestalteten Gedenkort an diesem Schauplatz des Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion. 4000 Rotarmisten wurden 1941 und 1942 von der Lager-SS erschossen.
Lew Kamionko, 37, hat nicht überlebt. Seine Enkelin Tatjana Stachanowa lobt heute Deutschland. "Ihr Land tut so viel für die Erinnerung", sagt sie. Ihre Familie wusste lange nichts über das Schicksal von Lew Kamionko. Bis sein Sohn, ein Militärhistoriker, Anfang der achtziger Jahre bei Recherchen für ein Buch über sowjetische Kriegsgefangene auf den Namen seines Vaters stieß. Aber in Dachau und Bayern wollte jahrzehntelang niemand an das Verbrechen erinnern. Doch nun bekommen die Opfer ein Gesicht: 900 Namen haben Historiker im Auftrag der KZ-Gedenkstätte Dachau in internationalen Archiven gefunden. Auf Presseaufrufe in den Länden der ehemaligen Sowjetunion meldeten sich viele Angehörige. Tatjana Stachanowa und 24 weitere wurden zur Gedenkfeier eingeladen. Die bekannten Namen der Opfer sind in Marmorplatten eingraviert - viel Platz wurde für die anderen 3100 Rotarmisten freigelassen. Man wird ihre Namen noch finden.
Der Bund teilt sich mit Bayern die 800 000 Euro Kosten für die Gestaltung
Am 22. Juni 1941 überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion. Dem sogenannten Kommissarbefehl entsprechend wurden unter den Kriegsgefangenen Juden, Parteifunktionäre und Politkommissare ausgesondert und ermordet. Die ersten Dachauer Opfer tötete die Lager-SS im August/September 1941 im Bunkerhof des Konzentrationslagers. Der Großteil der Gefangenen wurde dann, vom 4. September an, auf dem zweieinhalb Kilometer entfernten Schießübungsplatz der SS hingerichtet.
Auch in Mauthausen, Flossenbürg, Sachsenhausen, Buchenwald oder Auschwitz wurden Rotarmisten exekutiert, mit Giftspritzen oder Gas getötet. Die Wehrmacht stellte Begleitkommandos für den Transport in die Lager und lieferte die Gefangenen an die SS aus. Nur selten protestierte ein Offizier wie der Major Karl Meinel in München, der die Auslieferung von Kriegsgefangenen verweigerte. In Dachau dauerten die Massenerschießungen bis Juni 1942 an. Drei der insgesamt 5,7 Millionen kriegsgefangenen Soldaten der Roten Armee starben einen qualvollen Hungertod in deutschen Gefangenenlagern oder wurden erschossen. 27 Millionen Sowjetbürger wurden in dreieinhalb Kriegsjahren getötet. Diese Zahlen lassen die wahre Dimension der deutschen Verbrechen in der früheren Sowjetunion erahnen.
Im Kalten Krieg wurde daran nicht erinnert, wie die Historikerin Gabriele Hammermann, Leiterin der KZ-Gedenkstätte, sagt. In der Sowjetunion selbst verdächtigte man die Überlebenden der Kollaboration. Heute ist der "SS-Schießplatz Hebertshausen" ein zentraler Ort in der russischen Erinnerung. Der Bund entsendet jedoch keinen Vertreter zur Gedenkfeier. Angeblich wegen Terminproblemen, wie zu erfahren war.
Das Land Bayern vertritt der CSU-Abgeordnete Karl Freller, Direktor der Gedenkstättenstiftung und ein namentlich noch nicht genannter Staatssekretär. Immerhin: Der Bund teilt sich mit Bayern die 800 000 Euro Kosten für die Gestaltung des Gedenkorts - in früheren Jahren ließen sie den Ort verwahrlosen. 1964 errichtete die Lagergemeinschaft Dachau einen vier Tonnen schweren Gedenkstein. Das bayerische Finanzministerium ließ ihn kurze Zeit später entfernen und alle Hinweistafeln beseitigen. 1966 protestierte die sowjetische Botschaft beim Auswärtigen Amt - ohne Erfolg.
Die Erhaltung des Ortes ist nur bürgerschaftlichem Engagement zu verdanken
Benjamin Temkin sieht nun mit eigenen Augen den Ort, von dem ihm sein Vater erzählte. Ende November 1941 stand der 24-jährige Moisej Temkin nackt und zitternd mit anderen Gefangenen in der rechten Pistolenschussbahn und wartete auf seinen Tod. Ein Dolmetscher erklärte ihnen, dass sie hingerichtet würden. Viele flehten um ihr Leben, schrien vor Angst, andere versanken in stumme Verzweiflung. SS-Männer führten die Rotarmisten nach und nach zur linken Bahn und ketteten sie in Fünferreihen an Pfosten. Bei archäologischen Ausgrabungen wurden Projektile, Handschellen und 165 Schädel- und Kieferfragmente gefunden. 200 SS-Männer waren an dem Massenmord beteiligt. Die Leichen wurden im Krematorium verbrannt oder nach München transportiert.
Moisej Temkin hörte die unablässigen Gewehrsalven und schloss mit seinem Leben ab. Doch dann brachte die SS ihn und 22 weitere Gefangene wieder in das Lager zurück. Sie sollten vor ihrer Ermordung noch Zwangsarbeit leisten. Die SS hatte übersehen, dass Moisej Temkin Jude war. Nur elf der Täter wurden nach Kriegsende bei den Dachauer Prozessen zum Tode verurteilt. Die anderen kamen mit kurzen Haftstrafen davon oder blieben unbehelligt. Wie Schutzhaftlagerführer Egon Zill. Er lebte bis zu seinem Tod im Jahr 1974 in Dachau.
Die Dachauer und Hebertshausener wollten nichts gewusst haben. Aber tagelang waren die Gewehrsalven zu hören. Und in der Gaststätte im SS-Gebäude am "Schießplatz" verkehrten SS-Männer und Zivilisten. "Sie haben es damals ignoriert, und es ist heute noch weniger ein Thema", sagte Maria Seidenberger 2005 der SZ. Als erste erhielt sie den Zivilcourage-Preis der Stadt, weil sie als 17-Jährige Briefe eines tschechischen Häftlings aus dem KZ geschmuggelt hatte. Hammermann betont, dass die Erhaltung des Orts nur bürgerschaftlichem Engagement zu verdanken sei. Der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), der Lagergemeinschaft Dachau und dem Förderverein für Internationale Jugendbegegnung und Gedenkstättenarbeit.
1998 kam der "SS-Schießstand" zur KZ-Gedenkstätte, deren ehemalige Leiterin Barbara Distel sich für den Gedenkort besonders einsetzte. Im Juni 2011 wurden die bei den Ausgrabungen geborgenen sterblichen Überreste von Opfern auf dem "Schießplatz" bestattet. Gabriele Hammermann und ihr Team haben nun auf dem acht Hektar großen Areal einen beeindruckenden Gedenkort geschaffen. Die Ausstellung enthält auch Tafeln mit Familienfotos und Lebensläufen von Opfern.
Moisej Temkin , der auch Mauthausen, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen überlebte, kehrte in seinen weißrussischen Heimatort Beschenkowitschi zurück. Dort erfuhr er, dass sein Vater bei einem Massaker an der jüdischen Bevölkerung im Februar 1942 getötet worden war. Für Benjamin Temkin wird es sein erster Besuch in Deutschland sein. Er soll nach Max Mannheimer, Vizepräsident des Internationalen Dachau-Komitees, eine Rede halten. Davor fürchtet er sich. Denn jedes Mal, wenn er sie seiner Frau vorzulesen versuchte, brach er in Tränen aus. Auch für den russischen Botschafter Wladimir Grinin und seinen ukrainischen und weißrussischen Kollegen Pavlo Klimkin und Andrei Giro, wird es ein besonderer Tag sein. Nach der Kriegsrhetorik in der Ukraine-Krise ist an diesem Ort Diplomatie angesagt. Das dürfte ihnen entgegen manchen Befürchtungen nicht schwer fallen. Denn die Erinnerung an das Massaker von 1941/1942 vereint alle drei Länder.