Asyl:"Wir brauchen dringend humanitäre Lösungen"

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An vielen Orten in Bayern sind Flüchtlinge dezentral untergebracht. Oft in Unterkünften, die vom nächsten Dorfkern ein gutes Stück entfernt sind. (Foto: Niels P. Joergensen)

Auf dem Land haben Flüchtling ganze Dorfgemeinschaften beflügelt, stellt Stephan Reichel immer wieder fest. Der Geschäftsführer des Vereins Matteo weiß aber auch, wie Integration an Angst scheitern kann.

Interview von Hans Kratzer

SZ: Die junge Generation galt lange Zeit als unpolitisch. Seit Kurzem engagieren sich viele stark für die Klimabewegung. Spüren Sie auch in der Flüchtlingsarbeit ein wachsendes Engagement der Jugend?

Stephan Reichel: Nein, leider nicht. Nur wenige junge Menschen machen mit, am häufigsten engagieren sich ältere Frauen. Die Jugend verhält sich Flüchtlingen gegenüber nicht abweisend, aber es gibt nur wenig Kontakte. Viele junge Leute sagen, sie gingen später eh in die Stadt, sie wollen sich auf dem Land auf nichts Neues einlassen. Das Flüchtlingsthema wird zudem als Problem begriffen, selbst in dem berühmten Video des Youtubers Rezo, wo das Thema "Flucht und Migration" auf die Klimakrise reduziert wird.

Wie reagiert man auf dem Land generell auf Flüchtlinge?

Die dezentrale Unterbringung, wie sie in Bayern praktiziert wurde, war eine gute Sache. Auch wenn zunächst Ängste zu spüren waren. Es hieß, durch Flüchtlinge würde die Dorfgemeinschaft gespalten. Später merkte man: Seitdem Flüchtlinge da sind, lebt die Dorfgemeinschaft wieder auf. Das Karitative hat die Gemeinden wiederbelebt. Plötzlich waren wieder junge Leute da. Es kam in vielen Dörfern zu einer Mischung aus Zuversicht und Nützlichkeit. Ein Oberstdorfer Gastwirt klagte: Wenn zu uns fremde Flüchtlinge kommen, geht der Fremdenverkehr kaputt. Dann sah er, dass da plötzlich dringend benötigte Arbeitskräfte da waren. Er wurde dann sogar Leiter eines Hilfsvereins. Oft entstanden enge Verbindungen. Manche Flüchtlinge wohnen sogar bei ihren Arbeitgebern.

Und wie betrachten Flüchtlinge und Asylbewerber das ländliche Bayern?

Manche wundern sich, warum so wenig los ist, warum viele Dörfer wie tot wirken. Sie fragen: Wo sind die ganzen Leute? Und warum hier so viele alte Menschen allein in ihren Häusern wohnen? Sie wundern sich über zerbrochene Familien- und Dorfstrukturen, dass es vielerorts keine Wirtshäuser und Läden gibt. In vielen Teilen Afrikas, besonders dort, wo Krieg herrscht oder Ebola Menschen hinwegrafft, kann man ohne Familie gar nicht überleben.

Stephan Reichel war 30 Jahre für einen Finanzkonzern weltweit unterwegs. Danach war er Kirchenasyl-Koordinator der evangelischen Kirche. Nun kümmert er sich als Geschäftsführer des Vereins Matteo um Flüchtlinge. (Foto: Sebastian Beck)

Sie sagten, vor allem ältere Menschen helfen in der Flüchtlingshilfe mit.

Große Hilfsbereitschaft herrscht besonders in jenen Orten, wo Heimatvertriebene leben, Familien, die einst in Schlesien, Pommern und im Sudetenland lebten. Was die Flüchtlinge mitmachen, das wissen wir, sagen sie.

Sie besuchen mit Flüchtlingen auch Museen und Kirchen. Wie reagieren sie, wenn sie die Wieskirche betreten?

Viele waren ja noch nie in einer christlichen Kirche, sie denken, sie dürfen da gar nicht rein. Manchmal ist es fast zum Schmunzeln. Evangelisch ist super, sagen sie dann, aber die barocke Pracht beeindruckt sie schon. Katholisch ist noch besser, fahren sie dann fort. Das Programm der Gegenreformation wirkt hier also immer noch nach. Als wir das Riesmuseum besuchten, spürte ich, wie aus anfänglichem höflichen Interesse sich schnell ein echtes Interesse entwickelte.

Wie viele Flüchtlinge bringen überhaupt religiöse Erfahrungen mit?

Ganz viele sind theologisch bewandert. Es gibt unter ihnen nur wenige Atheisten. 90 Prozent sind Muslime. Zu ihnen wollen wir Brücken bauen, denn sie merken ja gleich, dass einiges aus ihrem Glauben ähnlich zum Christentum ist: Esa, Miriam ...

Auch auf Wanderungen nehmen Sie Flüchtlinge mit. Ist das auch Neuland für diese Menschen?

Das ganze Leid, das einem bei den Biografien der Flüchtlinge entgegenschlägt, ertrage ich oft nur durch das Wandern. Ich nehme Flüchtlinge mit, es interessiert sie sehr, vor allem Belange der Landwirtschaft und der Kultur. Die Afghanen sagen oft, es sei hier wie bei ihnen zu Hause, nur dass es weniger Wölfe gebe. Sie wundern sich allerdings, dass sich die Kühe so nah an die Waldränder hinwagen. Diese Menschen haben immer noch Respekt vor den Wäldern, weil sie glauben, dass dort wilde Tiere hausen. Gehen wir in den Wald, kommt die bange Frage, wo es denn jetzt hingehe, die Furcht ist verständlich. Daheim, etwa in Sierra Leone, geht man nicht in Wälder, wo es vor Raubtieren, giftigen Spinnen und Schlangen nur so wimmelt.

Hier bei uns machen ihnen vermutlich andere Dinge Angst.

Viele haben Furchtbares erlebt. In Bayern werden nicht nur straffällige Afghanen abgeschoben, sondern auch unbescholtene junge Männer, die mitten in der Ausbildung stehen und bei der Rückkehr sofort in den Fokus von Terrorgruppen geraten. Ein junger Flüchtling stand in Bayern auf einer Abschiebeliste, obwohl er der beste Pflegeschüler war, er ist fast durchgedreht vor Angst. Ich kenne Hunderte solcher Fälle. Wenn Afrikaner zurückkehren, gelten sie dort als Versager. Viele können nur überleben, weil wir ihnen Geld schicken. Nur ein Bruchteil der Asylbewerber kann überhaupt abgeschoben werden, aber die Drohung trifft Hunderttausende, und das macht viel kaputt. Es gibt Suizide, besonders bei Afghanen. Andere werden psychisch krank oder straffällig. Wir brauchen dringend humanitäre Lösungen. Viele suchen und finden hier auch so etwas wie eine neue Heimat, aber sie wird ihnen von politischen Heimattümlern verweigert. Das müssen wir ändern, jung und alt.

© SZ vom 28.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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