Am 30. April 1945 hat sich mitten im Dorf Seeshaupt eines der dramatischsten Ereignisse der Ortsgeschichte zugetragen. Und doch wurde dieses Geschehen rasch verdrängt, "über Jahrzehnte hinweg wurde darüber in der Öffentlichkeit nicht geredet", sagt Bero von Fraunberg, der sich seit langem mit der Geschichte der an der Südspitze des Starnberger Sees gelegenen Gemeinde auseinandersetzt. Das Unfassbare ist schnell erzählt: Wenige Tage vor dem Kriegsende hatten amerikanische Soldaten in Seeshaupt einen Güterzug angehalten. Er kam aus dem KZ-Außenlager Mühldorf, 2000 Menschen waren darin eingepfercht. Nachdem die Amerikaner die Waggons geöffnet hatten und die Gefangenen halbtot ins Freie wankten, wurde das Dorf von Angst und Entsetzen erfasst, aber auch Schuldgefühle und Verunsicherung bewegten die Menschen. Es traf sie zu viel Unerwartetes bei all den Sorgen, die diese Zeit sowieso schon mit sich brachte. Fast hundert Häftlinge starben an den Misshandlungen der Nazis und wurden im Ort begraben.
Es ist lehrreich zu beobachten, wie das Dorf mit dieser Belastung umgegangen ist. Diese Geschichte ist auf ihre Weise auch exemplarisch, denn die Frage von Schuld und Verdrängen lastete ja auf dem ganzen Land. In Seeshaupt verblasste die Erinnerung an den 30. April 1945 sowie an all die Toten und Verletzten sehr schnell. Es wurde auch nicht darüber geredet, dass die US-Soldaten die Seeshaupter zwangen, sich das Elend am Bahnhof anzuschauen.
Als 50 Jahre danach eine Diskussion um ein Mahnmal aufflammte, ließ sich die Erinnerung nicht mehr wegsperren. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erfasste das ganze Dorf und provozierte auch Kontroversen. "Seeshaupt hat aber erfahren, dass sich Vergangenheit nicht durch Verdrängen bewältigen lässt", sagt Bero von Fraunberg. Es war jedoch ein bereinigender Prozess, es gab gute Diskussionen, die es ermöglichten, dass am 30. April 1995 das Mahnmal an der Bahnhofstraße enthüllt werden konnte. Seitdem findet dort alljährlich eine große Gedenkfeier statt.
Seeshaupt ist mittlerweile in der glücklichen Lage, die Geschichte dieses Mahnmals von Anfang bis zum Ende dokumentiert zu haben. Man kann das alles nachlesen in einem 140 Seiten starken Buch, das noch dazu ein Paradebeispiel für eine geglückte lokalgeschichtliche Dokumentation darstellt. Das Werk ist sauber recherchiert, gut aufgeschrieben, beeindruckend bebildert. Es wäre wünschenswert, dass alle Gemeinden in Bayern eine solche Darstellung der Zeit des Nationalsozialismus und ihrer Aufarbeitung besäßen. Die Macher der Mahnmal-Chronologie aber haben sich damit nicht zufrieden gegeben.
Vielmehr erkannten sie, dass man Ortsgeschichte durchaus attraktiver darstellen kann, als es häufig der Fall ist. Und so wurde der Grundstock gelegt für eine Reihe, die sich stark unterscheidet von den oft so schweren und dickleibigen Chroniken, in denen zwar jahrelange Fleißarbeit steckt, denen aber die Leichtigkeit im Stil wie in der Präsentation fehlt. Oft kommen sie daher als fast unlesbare Konglomerate von Daten und Fakten im Bleiwüstenformat daher, die jede Lesefreude im Keim ersticken.
Der Anstoß, eine Ortsdokumentation überhaupt anzupacken, kam von Bero und Renate von Fraunberg, einem Ehepaar, das keineswegs zu den Ureinwohnern von Seeshaupt zählt. Vor gut 40 Jahren sind sie in den Ort gezogen, weshalb sie immer noch das Etikett "Zuagroaste" tragen. Trotzdem haben sie sich gut integriert, was daran liegt, dass er als Journalist und sie als Mesnerin das Dorfleben nach Kräften mitgestalten. Ihre Eingliederung beschleunigten sie durch die Herausgabe einer Dorfzeitung, die ihnen Zugang bis hinein in das bäuerliche Milieu verschaffte, das es damals noch gab.
Die vor sechs Jahren geborene Idee für das Buchprojekt ist inspiriert von der Leidenschaft, das Leben und den kulturellen Reichtum in der Nähe zu dokumentieren. Die Entwicklung Seeshaupts sollte aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet werden. Nach dem Mahnmal-Band sind mittlerweile drei weitere Bücher erschienen, eines über die Kirchen im Dorf, eines über die hiesige Künstlerszene, die unglaubliche Geschichten an den Tag gebracht hat. Erst dadurch wurde deutlich, wie viele Künstler seit dem Biedermeier hier ihre Sommerresidenz aufgeschlagen haben. Selbst Spitzweg ist hierher gekommen, auch der große Expressionist Heinrich Campendonk hat sich in Seeshaupt wohlgefühlt. Der neueste Band ist den Vereinen gewidmet, die längst nicht mehr nur Heimat der Vereinsmeier und Gschaftlhuber sind, sondern die Hauptträger dörflichen Zusammenlebens im Umbruchprozess.
Die Reihe, die sich "Seeshaupter Ansammlungen" nennt, wird fortgesetzt und setzt auch insofern Maßstäbe, als das Redaktionsteam, bestehend aus dem Ehepaar von Fraunberg und der Journalistin Heidrun Graupner, imstande ist, viele namhafte Münchner Autoren zur Mitarbeit zu motivieren. Das ehrenamtliche Projekt und die Debatten über das Mahnmal haben Seeshaupt gut getan. Das zeigt sich vor allem bei der Betreuung von Asylbewerbern, die hier reibungslos funktioniert.
Die "Seeshaupter Ansammlungen" sind im Rathaus erhältlich. Versand über die Seeshaupter Bürgerstiftung (Schulgasse 1, 82402 Seeshaupt )