Bizarres Sportgerät:Auf der Spur der Ballonauten

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Angespornt von der Leistung zweier Regensburger Sportler vor 80 Jahren, hat der Journalist Hubertus Wiendl das Gefährt nachgebaut. (Foto: Hubertus Wiendl)

Hubertus Wiendl hat ein bizarres Sportgerät nachgebaut, mit dem sich vor 80 Jahren zwei Männer durch Deutschland schleppten. Am Samstag soll der hölzerne Riesenfußball auf der Steinernen Brücke in Regensburg präsentiert werden.

Von Hans Kratzer

Tief entspannt hat sich Jakob Schmid nicht gefühlt, als er am 27. April 1933 im Reisetagebuch seine Gedanken festhielt: "Hoffentlich passiert uns nichts", notierte er, "was wir da leisten, ist unmenschlich." Schmid und sein Spezl Georg Grau bereiteten sich zu dieser Stunde auf eine der spektakulärsten sportlichen Leistungen vor, die Deutschland je gesehen hatte. Ein gutes Jahr vorher waren die Sportler in ihrer Heimatstadt Regensburg zu einer bemerkenswerten Deutschlandreise aufgebrochen. Zwei Männer, die allein mit ihrer Muskelkraft einen zwölf Zentner schweren und eisenbereiften Holzfußball durchs Land rollten - von Süd nach Nord, von Ost nach West.

Nun wollten sie den 1500 Meter hohen Wallberg im Tegernseer Land bezwingen. 48 Stunden waren planmäßig dafür vorgesehen, am Ende sollte sich die Tortur mehr als zehn Tage hinziehen. Zentimeter für Zentimeter quälten sich Schmid und Grau das steinige, unplanierte und phasenweise extrem steile Bergsträßlein hinauf, das zum Wallberghaus führte. Als das überbeanspruchte Schuhwerk brach, lief Schmid unbeirrt strumpfsockig weiter.

Im Jahr 2010 ist dem Regensburger Journalisten Hubertus Wiendl zufällig das alte Reisetagebuch von Schmid in die Hände gefallen. Es war bis dahin zwar durch viele Hände gegangen, aber niemand hatte darauf reagiert. Wiendl aber erkannte das Potenzial dieser einzigartigen Geschichtsquelle auf Anhieb. Das Tagebuch wirbelte sein Leben gehörig durcheinander, nachdem er das Projekt "Ballonauten" ins Leben gerufen, Fotos und Texte des Tagebuchs ins Internet gestellt und damit viele Fernsehsender, Zeitungen und Magazine auf das Thema heiß gemacht hatte. Alsbald beschloss Wiendl, den Ball nachzubauen und ihn abermals auf eine Deutschlandreise zu schicken. Denn er war zu der Überzeugung gelangt, dass die Deutschen von den Ballonauten, wie er die Regensburger Sportler nennt, noch heute viel lernen können. Dabei waren diese schon 1933 sang- und klanglos in Vergessenheit geraten.

Am 10. Mai 1932 waren der Bäcker Jakob Schmid und der Hafenarbeiter Franz Perzl, der später von Georg Grau abgelöst wurde, mit großen Hoffnungen gestartet. Wie so viele Deutsche waren auch die beiden Sportler damals arbeitslos geworden. Der Bezug von Arbeitslosenunterstützung kam für sie nicht in Frage. "Wir haben doch Hände, die zupacken können", sagten sie. Um der drohenden Not zu entgehen, fassten sie den Plan zu einer spektakulären sportlichen Leistung, die ihnen öffentliche Anerkennung und neue Perspektiven eröffnen sollte.

Zusammen mit einem Wagnermeister schufen Schmid und Perzl aus 600 Erlenholzteilen eine an einen Fußball erinnernde Kugel mit 2,05 Metern Durchmesser. Umgürtet war sie mit zwei parallel laufenden Eisenringen, welche die Kugel in der Spur hielten. Sie war so ausgefeilt konstruiert, dass sie Stauraum für das Gepäck und zwei Matratzen bot. Der Innenbau ruhte auf Kugellagern, drehte sich damit beim Rollen nicht mit und konnte beim Stehen mit Haken fixiert werden. Vom ersten Tag an dokumentierten sie ihre Tour penibel. In das Buch klebten sie Fotos, Genehmigungen, Postkarten und Schuldscheine, dazwischen notierten sie ihre Erlebnisse. Wer heute in diesem dicken und schweren Sammelsurium schmökert, der erfährt höchst interessante Details über die Stimmung und die Menschen in jenem Land, in dem Hitler gerade die Macht an sich riss.

"Das Buch ist ein aufschlussreiches Zeitdokument, da es aus ganz alltäglicher Sicht die bis heute unerklärliche Zeit der Machtergreifung Hitlers und der Nationalsozialisten beleuchtet", sagt Wiendl. Der Leser bekomme dort erhellende und unverstellte Einblicke in eine Zeit, die heute trotz allen Wissens unerklärlich erscheint. "Die Situation von damals droht Europa auch jetzt wieder", befürchtet Wiendl. Wenn eine Gesellschaft ökonomisch auseinanderdrifte, werde sie das auch politisch tun. Er ist überzeugt: "Die Leute von heute können aus der Umbruchszeit von 1932/33 viel lernen."

Damit will er die 3000 Kilometer lange Tour von 1932/33 wiederholen. (Foto: Hubertus Wiendl)

Wiendl will vor allem junge Menschen für diesen Umbruch sensibilisieren. Die Wiederholung der Reise soll einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass sich die Geschichte eben nicht wiederholt. "Fallt nicht noch einmal auf die falschen Propheten herein! Lasst euch nicht wieder von Rattenfängern verführen!" Das will Wiendl jungen Menschen in einer Zeit mitgeben, die weit entfernt ist von der Nazi-Ära, temporär wie emotional. Dabei biete die heutige Zeit viele Anknüpfungspunkte: Eine weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise habe damals die Bevölkerung gebeutelt, Migration und Integration seien ebenso ein Reizthema gewesen, wie sie es heute sind. Arbeitslosigkeit, fehlendes Vertrauen in die Politik und Radikalisierung bestimmten den Alltag.

Dementsprechend lauerte auch für die Ballonauten die Gefahr überall: "Ein Pfreimder Wirtssohn, welcher hier sein Gasthaus hat, drohte mit der Schaufel", ist im Tagebuch zu lesen. Und immer wieder die drückenden Geldsorgen. Mit dem Verkauf von Ansichtskarten, die sie von sich und ihrer Kugel hatten anfertigen lassen, wollten sie sich über Wasser halten. Ihr Bemühen war oft vergeblich, "Wer das noch nicht mitgemacht hat, kann es gar nicht verstehen, was das für eine Qual ist", klagte Schmid am 18. Mai 1932.

Am kommenden Samstag soll der Traum des Jakob Schmid doch noch vollendet werden. Sein unerfüllter Wunsch, den Regensburgern von seiner unglaublichen Reise zu berichten, wird dann wahr. Um 14 Uhr wird der Nachbau des Riesenfußballs auf der Steinernen Brücke in Regensburg der Öffentlichkeit vorgestellt. Auf jener Brücke also, auf der das Abenteuer der Ballonauten seinen Ausgang genommen hatte. Die Wiederholung der Reise durch Deutschland soll in einem Jahr beginnen.

Verarmt und aller Illusionen beraubt kehrte Jakob Schmid Mitte August 1933 zurück von jener Tour, die nach 15 Monaten und gewaltigen Strapazen tragisch scheiterte. In der Nähe von Ellwangen brach die Kugel nach 3000 Kilometern erschöpft auseinander. Alle Hoffnungen hatten sich zerschlagen. "Mögen sie bei ihrer Rückkehr bessere wirtschaftliche Verhältnisse antreffen als die heutigen sind", hatte eine Regensburger Zeitung beim Start gehofft. Die Ballonauten hatten aber schon während der Reise viele Illusionen verloren, zu oft waren sie als Verrückte geschmäht, waren ihre Leistungen ignoriert worden. Das neue Nazi-Deutschland hatte für solche Eigenbrötler erst recht nichts übrig, sie gerieten rasch in Vergessenheit, und Schmid verlor schließlich im Krieg sein Leben.

Dank Wiendls Bemühungen fahren die vergessenen Helden 80 Jahre nach ihrer spektakulären Tour doch noch den Ruhm ein, der ihnen eigentlich schon zu Lebzeiten gebührt hätte. Ihr Tagebuch wird bereits ins Englische übersetzt, das größte amerikanische Kraftsport-Magazin verneigte sich soeben vor der sagenhaften Leistung, die umso höher zu bewerten ist, als die Sportler ja über weite Strecken der Reise unterernährt waren.

Die vielen Kuriosa dieser Geschichte finden ihre Fortsetzung in der Beziehung der Söhne von Jakob Schmid und Georg Grau. Diese sind seit langem als befreundete Geschäftspartner miteinander im Austausch. Außerdem wohnen sie in Regensburg bloß einen Kilometer auseinander. Aber erst jetzt haben sie über einen Zeitungsbericht von der gemeinsamen Geschichte ihrer Väter erfahren. Ausgerechnet über dieses Thema hatten sie sich nie unterhalten.

© SZ vom 02.07.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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