Abiturient mit Asperger-Syndrom:"Ich mach mein Ding!"

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David Mundelius ist kein ganz normaler Junge: Der 18-Jährige leidet unter dem Asperger-Syndrom. Seine Leidenschaft gehört den Zahlen und der Mathematik. Im Abitur hat er gerade die Traumnote 1,0 geschafft.

Christiane Funke

"Ich mach mein Ding!" Die Devise, die Udo Lindenberg laut in die Welt rockt, ist auch das Lebensmotto von David Mundelius. Wenn ihn etwas interessiert, bleibt der 18-Jährige hartnäckig bei der Sache und lässt sich nicht ablenken von dem, was andere um ihn herum machen.

Hat sein Abitur gerade mit 1,0 bestanden: David Mundelius. (Foto: Stephan Rumpf)

So war es laut seiner Mutter schon im Kindergarten. Und so ist es bis heute. David ist aber kein polternder Typ, und Rockmusik liegt ihm gar nicht. Leise und zögerlich erzählt der schmale junge Mann von seiner Vorliebe für Zahlen und die Mathematik, während er seine Hände auf dem Tisch eines Münchner Cafés ineinander verschränkt. Immer habe es ihm in der Schule besonders gut gefallen, "wenn es mehr um das Denken als das Lernen ging".

Dass ihm beides liegt, hat David in diesem Schuljahr eindrucksvoll bewiesen. Als einziger Schüler seines Jahrgangs am Kleinen Privaten Lehrinstitut Derksen in Großhadern hat er die Traumnote 1,0 geschafft, und das, obwohl er das Asperger-Syndrom, eine leichte Form von Autismus, hat.

Passion für Zahlen

"Zahlen sind eindeutig", erklärt David seine Passion, die ihm in Mathematik und Physik im Abitur jeweils 15 Punkte eingebracht hat. Mit Zahlen weiß man, woran man ist, sie lassen keinen Raum für Interpretationen, Missverständnisse oder gar Missklänge. Anders als die Welt der sozialen Kontakte, der Herzensangelegenheiten. Gefühle seiner Mitmenschen spontan richtig zu deuten, fällt dem Jugendlichen wie anderen Menschen mit Asperger-Syndrom schwer. "Wenn ich Zeit habe, Stimmungen anderer Menschen zu erkennen, ist es meist kein Problem, aber im Alltag habe ich ja nicht immer Zeit dafür", sagt der Junge, der mit zwei Geschwistern und seinen Eltern in Vaterstetten im Landkreis Ebersberg wohnt.

Auch eigene Emotionen artikuliert David im Interview nicht spontan. Seine Sprache ist schnörkellos, intellektuell, rational, fast ohne Adjektive. Nüchtern schildert er etwa seine Fähigkeit, sich Daten einzuprägen: "Wenn ich irgendeinen Zahlenwert in der Physik mehrfach verwende, wie den Massenwert eines Elektrons, dann merke ich mir den schnell." Physik oder Mathematik? Zwischen diesen beiden Studienfächern schwankte David lange.

Die Würfel fielen schließlich zugunsten letzterer Fachrichtung: "In Mathematik gilt noch mehr als in Physik, dass ich die Dinge durch Nachdenken lösen kann", begründet er die Wahl. Auf seine Bewerbung für ein Mathematik-Studium an der Technischen Universität München hat der Junge, dessen Vater Programmierer ist und dessen Mutter am Gymnasium in Vaterstetten Chemie und Biologie unterrichtet, schon eine vorläufige Zusage bekommen.

Graphen und Gleichungen sind für den angehenden Studenten auch ein Hobby. Seine Nachmittage verbringt er unter anderem damit, mathematische Aufgaben aus dem Internet zu lösen. Wenn er von seiner letzten Lektüre berichtet, gerät der zurückhaltende Junge mit den braunen Augen und den etwas wuscheligen dunklen Haaren richtig in Fahrt.

Ausführlich berichtet er von dem Buch über den Mathematiker Pierre de Fermat, der im 17. Jahrhundert eine Behauptung aufgestellt hat, welche erst Ende des 20. Jahrhunderts bewiesen werden konnte. "Dass jemand eine Lücke in seinem Beweis hat und dies selbst nicht bemerkt, kommt öfter vor", erklärt der künftige Mathematiker, der sich auch für klassische Musik, insbesondere von Ludwig van Beethoven, interessiert und jeden Tag Klavier spielt.

Langeweile ist für den 18-Jährigen ein Fremdwort, das unterscheide ihn auch von seiner 16-jährigen Schwester und dem 12-jährigen Bruder, die nicht das Asperger-Syndrom haben. "Sie langweilen sich schnell", meint David, er könne sich hingegen problemlos mit sich selbst beschäftigen.

Dass ihr Sohn anders als andere war, sei schon im Kindergarten aufgefallen, erinnert sich seine Mutter, Elisabeth Mundelius. Es habe eine "riesige Diskrepanz bestanden zwischen den hohen, intellektuellen und den sozialen beziehungsweise motorischen Fähigkeiten". Eine Odyssee zu verschiedenen Fachleuten blieb zunächst erfolglos, niemand konnte das Verhalten des Sohnes erklären. Erst eine Lehrerin an der Montessori-Grundschule in Hohenbrunn gab den entscheidenden Tipp, David auf das Asperger-Syndrom untersuchen zu lassen. Die Eltern lasen sich in das Thema ein.

In einem Gesprächskreis für Väter und Mütter von Asperger-Kindern verwies man sie schließlich an die Heckscher-Klinik in München, wo die eindeutige Diagnose erstellt wurde. Das Wissen machte vieles für die Eltern leichter, da sie die von anderen oft als merkwürdig eingestuften Verhaltensweisen ihres Sohnes nun besser verstehen konnten. An dem kleinen Derksen-Gymnasium sei die Gefahr des Mobbings geringer als an anderen Schulen, dachten sie und schickten David trotz der einstündigen Anfahrt auf das Institut in Großhadern. "Tatsächlich gab es nur einen Fall von Mobbing und auch der hat sich schnell erledigt", sagt die Mutter.

Asperger, das kann laut Fachliteratur bedeuten, dass der betroffene Mensch den Blickkontakt meidet, feste Gewohnheiten liebt, sich schwer tut, Ironie oder Witz zu verstehen, und ungern andere Menschen anspricht. Verhaltensweisen, die auch David zeigt und an sich erkennt. Ein Problem ist das für ihn aber nicht. Spielt es denn überhaupt eine Rolle in seinem Leben? "Schwer zu sagen", meint der junge Mann, "weil ich ja nicht weiß, wie es sonst wäre und ob ich dann in manchen Situationen anders reagieren würde." Andererseits, wer weiß, ob er sonst so ausgeprägte Talente hätte.

Talente, die zunehmend auch in der Arbeitswelt geschätzt werden, wo ein zaghaftes Umdenken einsetzt. Seitdem eine dänische Firma erfolgreich Asperger-Autisten vorwiegend an IT-Unternehmen vermittelt, kommt die Idee auch langsam nach Deutschland, wo laut dem Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus bis zu drei von tausend Menschen das Asperger-Syndrom haben und die Zahl der männlichen Betroffenen mindestens sechsmal so hoch ist wie die der weiblichen. "Es gibt ja auch die Hypothese, dass das Asperger-Syndrom nur eine Übersteigerung der männlichen Art zu denken ist", erklärt Elisabeth Mundelius.

Jetzt kommt das Studium

Ihr Sohn David ist jedenfalls der beste Beweis dafür, dass so manche Etiketten und Stempel, die Menschen mit Asperger-Syndrom verpasst werden, gar nicht auf jeden Betroffenen passen. David hatte nicht nur in Naturwissenschaften, sondern auch in Deutsch Spitzennoten - und er liest neben Sachbüchern auch Romane. Vermutlich hat David manchmal auch eine höhere soziale Kompetenz als einige Einzelkämpfer, bei denen keine unheilbare Form von Autismus nachgewiesen wurde.

Oft habe er Mitschülern etwas in der Schule erklärt, "sie meinten, ich könnte das gut", sagt der Junge, dessen Kleidung - graues Sweatshirt, schwarze Jeans, Sportschuhe - sich nicht von der seiner Altersgenossen unterscheidet. Wird er an der Uni auch wieder seinen Kommilitonen die Lösung erläutern? "Das wird sich zeigen, aber es ist möglich", meint David. Sicher wird er auch im Studium seinen Weg gehen. Denn eins war schon immer für ihn klar: Er macht sein Ding.

© SZ vom 31.07.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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