Zum Beginn der Fahrradsaison:Der Stärkere gibt nach

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Jetzt steigt das Risiko für Radfahrer wieder - Experten fordern bessere Radwege und mehr gegenseitige Rücksicht.

Marion Zellner

Endlich - die Sonne scheint, die Temperaturen steigen, der Frühling ist da. Und damit sind auch wieder viel mehr Radfahrer auf deutschen Straßen - auf dem Weg zur Arbeit, schnell ums Eck zum Einkaufen oder gut gelaunt unterwegs ins Wochenende. Eine Fortbewegung, die allen und allem dient, denn: Das Fahrrad - laut Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) gibt es in Deutschland rund 68 Millionen - fördert nicht nur die persönliche Gesundheit, sondern ist auch kostengünstig und mangels jeglicher CO2-Emissionen absolut umweltfreundlich. Es gibt aber auch die tragische Dimension. Nach aktuellen Schätzungen der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) sind in Deutschland im vergangenen Jahr 440 Radfahrer bei Verkehrsunfällen tödlich verletzt worden, zwei Prozent mehr als im Jahr 2007. Im Gesamtvergleich heißt das: 2008 war in etwa jeder zehnte im Verkehr Getötete mit dem Fahrrad unterwegs. Schwer verletzt wurden mehr als 14.000 Radler.

Alltägliches zur Sommerzeit: Immer mehr Menschen sind wieder mit dem Rad unterwegs - in der Stadt oder raus ins Grüne. Damit wächst auch die Gefahr schwerer Unfälle. (Foto: Foto: Visum, vario-press, ddp)

"Die schwersten Verletzungen, oft auch mit tödlichen Folgen, erleiden Radfahrer am Kopf", beklagt Welf Stankowitz, Fahrradexperte beim Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR). Deshalb sei "der Helm Lebensretter Nummer eins für Radfahrer" - so wie der Sicherheitsgurt für Autofahrer. Dass es in Deutschland keine Helmpflicht für Radfahrer gibt, begrüßt Bettina Cibulski vom Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC), denn: "Studien belegen, dass eine Helmpflicht viele davon abhält, Rad zu fahren." Allerdings ist sie auch davon überzeugt, dass "der Helm hilft", und zwar allen Altersgruppen.

Radfahrer, ohne Pufferzone, sind gerade bei Kollisionen mit Autos massiv im Nachteil. Die aktuelle Forschungsarbeit "Unfallrisiko und Regelakzeptanz von Fahrradfahrern" hat deshalb untersucht, wo es im Straßenverkehr zu besonders kritischen Situationen zwischen Radlern und Autofahrern kommt. Die repräsentative Studie, die in Kürze veröffentlicht wird und der Süddeutschen Zeitung bereits in Auszügen vorliegt, haben die Planungsgemeinschaft Verkehr (PGV) in Hannover und das Institut Wohnen und Umwelt (IWU) in Darmstadt im Auftrag der BASt erstellt.

Ausgewertet wurden rund 800 Unfälle; zudem wurden in zehn deutschen Städten mehr als 800 Radfahrer befragt und über mehrere Stunden täglich etwa 39.000 Radfahrer beobachtet. Zwei Situationen sind besonders gefährlich, so Studienleiter Dankmar Alrutz von der PGV: "Gibt es auf jeder Straßenseite einen Radweg, sind Radler oft auf der falschen Seite unterwegs und werden von Autofahrern übersehen. Aber auch beim klassischen Rechtsabbiegen achten viele Autofahrer zu wenig auf von hinten kommende Räder."

Keine Rolle spiele dabei, ob sich die Radfahrer auf einem Radweg, einem Radstreifen oder Schutzstreifen befänden. Denn die Wahl des richtigen und damit sichersten Weges führt immer wieder zu Diskussionen zwischen Bikern und Planern in Städten und Gemeinden. Radwege sind von der Straße getrennt und auf einem Niveau mit dem Bürgersteig; Rad- und Schutzstreifen dagegen verlaufen auf der Fahrbahn und sind von der Autospur nur durch eine Linie getrennt.

Radweg und Radstreifen sind meist mit dem runden blauen Verkehrsschild gekennzeichnet - und damit benutzungspflichtig. Etwa 70 Prozent der Radwege in Deutschland sind so gekennzeichnet. "Diese Vorschrift ist nicht sinnvoll, denn oft sind die Wege zu schmal, haben Schlaglöcher, Baumwurzeln ragen heraus", weiß Cibulski. Eine Position, die auch Alrutz stützt: "Ein schlechter Radweg ist schlechter als gar keiner."

Was viele Radler, aber auch viele Autofahrer nicht wissen und schnell zu Streit führt: Gibt es einen Fahrradweg, der offiziell nicht als ein solcher gekennzeichnet ist, muss er nicht genutzt werden. Besonders riskant: Dort, wo es in den Städten keine Radspur gibt, ziehen sich viele Biker auf den Gehweg zurück - "da empfinden die meisten subjektiv Sicherheit", so Alrutz, "doch das stimmt nicht". Denn dann werden die Radfahrer zur Gefahr für noch schwächere Verkehrsteilnehmer - die Fußgänger. Bei solchen Unfällen sind Radler überwiegend schuld, "weil sich jeweils der Stärkere durchsetzt".

Ein unheilvolles Prinzip, das Radler tagtäglich im Zusammenleben mit Autofahrern erleben. Bei diesen Unfällen sitzen zwei Drittel der Hauptschuldigen im Auto, ein Drittel auf dem Rad. Im Vordergrund stehen dabei die Abbiegekollisionen. Oft scheitert es ganz banal am fehlenden Schulterblick der Pkw-Fahrer: "Jeder muss immer damit rechnen, dass ein Radfahrer den Weg kreuzt", sagt Studienleiter Alrutz. Auch dann, wenn die Autos geparkt sind - oft sind es unachtsame Beifahrer, die die Tür aufreißen und so Radler zu Sturz bringen. Noch dramatischer können die Situationen mit abbiegenden Lastwagen sein. "Der tote Winkel ist ein großes Problem. Natürlich muss man die Lkw-Fahrer weiter sensibilisieren und der vierte Seitenspiegel ist wichtig und richtig. Doch ich appelliere an Radfahrer, sich klar zu machen, dass der Fahrer sie eventuell wirklich nicht sehen kann. Da muss die eigene Sicherheit vorgehen", warnt Cibulski.

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Zu riskanten Begegnungen kommt es aber nicht nur wegen der mangelnden Rücksicht, sondern auch wegen Unkenntnis und Missverständnissen - zum Beispiel bei der Frage, nach welcher Ampel sich Radfahrer richten müssen. Eine Änderung der Straßenverkehrsordnung (StVO), die Anfang des Monats vom Bundesrat beschlossen wurde und am 1. September in Kraft tritt, schafft mehr Klarheit. Danach gelten für Radfahrer grundsätzlich Auto- und nicht Fußgängerampeln. "Damit wurde endlich anerkannt, dass Radfahrer keine Fußgänger sind", freut man sich beim ADFC.

Doch auch Radfahrer selbst bringen sich immer wieder in Gefahr. "Die meisten kennen die Verkehrsregel sehr gut", erläutert Alrutz ein Ergebnis der Studie. Aber: Etwa 60 Prozent der Befragten haben kein Problem damit, auf einem Radweg gegen die vorgeschriebene Richtung zu fahren, auf dem Bürgersteig zu radeln oder eine nicht für Radler freigegebene Einbahnstraße zu nutzen. Und 45 Prozent der Befragten geben zu, "mal bei Rot über die Ampel zu fahren". Kaum nachzuvollziehen, denn: Wechseln dieselben Radler die Rolle, setzen sich also ins Auto, stellt keiner von ihnen das Stopplicht in Frage. In diesem viel praktizierten Rollenwechsel sieht Welf Stankowitz vom DVR aber auch eine große Chance für mehr Sicherheit: "Es ist wichtig, dass sich beide Gruppen besser verstehen, sich entsprechend verhalten und Rücksicht nehmen."

Der wachsende Radverkehr müsse ernster genommen werden. Dazu gehöre auch, dass beim Bau von Radwegen die jeweils sinnvollste Lösung gewählt werde, die allen Verkehrsteilnehmern die größtmögliche Sicherheit biete. "Wer hier spart, gefährdet Leben", so Alrutz. Aber auch ungewöhnliche Überlegungen könnten dem Rad zu einem positiveren Image und zu noch größerer Verbreitung verhelfen. Statt 2500 Euro Abwrackprämie schlägt der ADFC "250 Euro staatliche Förderung beim Kauf eines neuen Fahrrades" vor.

© SZ vom 14.4.2009/gf - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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