Unterwegs:Die Welt ist ungerecht

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Mein altes Auto hupt nicht, wenn ich irgendwas vergesse und autonom fährt es nur, wenn ich die Handbremse mal nicht angezogen habe. Dafür liebe ich es.

Von Jörg Reichle

Alte Liebe rostet nicht, sagt das Sprichwort und natürlich ist da was dran. Dieser Tage überkommt sie mich wieder, diese frohe Unruhe. Dann ziehe ich behutsam das rote Tuch von meinem betagten Coupé. Die letzten Monate hat es in der Garage verbracht, sorgsam bewahrt von den Garstigkeiten des Winters, vom Salz auf den Straßen, den Stürmen des Lebens. Jetzt ist, Lob des Frühlings, der Augenblick gekommen: die erste zaghafte Drehung des Zündschlüssels, mit wohliger Erwartung lausche ich den ersten Umdrehungen des Sechszylinders, nehme das Erzittern der Karosse wahr, mit der sie ihre Vorfreude zeigt - auf die ersten Ausfahrten in frühsommerlicher Wärme, ein Wiedersehen mit den saftigen Wiesen des vergangenen Jahres, den frühen Blütlern und den ersten Segelbooten am Ufer der Seen. Sie sehen schon, liebe Leser, dieses Auto, Baujahr 1972, stammt aus einer Zeit, in der man automobil noch nicht der allgemeinen Verachtung anheimfiel, als vierrädriger Umweltschädling und damit als grundsätzlicher Schlechtmensch, dessen einziges Sinnen und Trachten es ist, dem Globus den Garaus zu machen. Und damit unseren Kindern . . . ach, lassen wir das, Sie wissen auch so, was gemeint ist.

Mit diesem feingliedrigen Wagen und seinem lichten Aufbau, dem schlichten Chromschmuck und dem eleganten Gesicht, alles gehüllt in unschuldiges Weiß, gilt man noch was in den Augen der Mitmenschen. Daumen werden gereckt und Kennerschaft geheuchelt, Sympathie, wohin man blickt. Dabei lässt er gut und gerne 15 Liter Supersupersuperplus durch seine Brennräume rauschen und, ich will ehrlich sein, auch das, was hinten rauskommt, riecht nicht besonders gut. Ein 200-PS-Auto macht das alles heute viel besser. Und trotzdem mag es niemand. Die Welt ist ungerecht und die Zeiten sind andere geworden.

Auch weil mein Coupé nicht klüger sein will als ich, liebe ich es. Es hupt mich nicht hysterisch an, wenn ich die Gurte nicht anlege, die Tür nicht schließe oder das Licht brennen lasse. Es lässt mich fahren, wie ich will, weil ich das mal in der Fahrschule gelernt habe und deshalb keine Assistenten brauche. Und auch autonom fährt mein Coupé nur, wenn ich vergessen sollte, die Handbremse anzuziehen.

© SZ vom 09.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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