Unterwegs:Die Gnade der Erfahrung

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Kein Wunder, dass manche schon bremsen, obwohl die Gefahr noch gar nicht in Sicht ist. Es ist die Erfahrung, die sie rettet.

Von Richard Christian Kähler

Wenn man all die Momente zusammenzählt, in denen man gebremst hat, obwohl vor der Kurve noch kein hinter der Kurve vom Acker einscherender Trecker zu sehen war, und man lieber doch nicht, wie eben noch beabsichtigt, voll beschleunigt und sich damit, Sekunden später ist es klar, in eine Katastrophe katapultiert hätte, dann weiß man, was Erfahrung am Steuer ausmacht. Das nicht zu Sehende vorauszusehen, nein, mehr noch: vorauszuspüren und schon mal zu bremsen oder sich sonst wie auf das Nötige einzustellen, das ist es halt, was zum Beispiel Führerscheinfrischlingen noch fehlt. Die müssen dann auf ihren Schutzengel vertrauen und hoffen, dass der nicht gerade Mittagspause macht.

Doch selbst alten Lenkradhasen fällt es schwer, über Kilometer und Kilometer ein Überholverbot einzuhalten, wenn man dabei hinter einem schneckenlangsamen Lastwagen mitten in einer schon gebildeten Schlange dahinzotteln muss, hübsch einer hinter dem anderen im Endlosgänsemarsch. Mit 50 km/h, wo doch und gerne auch 100 km/h drin wären. Und das zieht sich dann und zieht sich. Scheinbar endlos. Die Finger trommeln, das Blut pocht.

Doch bei jeder Überholmöglichkeit, der Gasfuß zuckt schon, peilt man besser schon mal an: Wie dicht fahren meine Vordermänner zusammen? Diese fünf, sechs Wagen hier rollen so geduldig wie geschlossen dahin. Keine Chance also, vorbeizukommen. Oder doch? Gilt vielleicht bei einem Überholvorgang, den man auf halber Strecke abbrechen muss, auch das Reißverschluss-Prinzip? Gibt es vielleicht einen Paragrafen in der StVO, einen zum Spurt ansetzenden Wilden im Notfall schnell rechts rüber und vor sich zurück in die Schlange huschen zu lassen? Die Pflicht zum Einreihenlassen für die anderen geduldig Dahinschleichenden?

Ansonsten lauern Panik und Peinlichkeit: bei plötzlich auftauchendem Gegenverkehr die Bremse treten, sich zurückfallen lassen und beten, dass die dichtgeschlossene Schlange rechts neben einem sich doch bitte bitte wie auf einen geheimen Befehl öffnen möge, bevor . . . - puh. Da wäre es doch schöner, nicht mehr so viel Testosteron im Leib zu haben, das einen in solchen Wahnsinn treibt.

© SZ vom 17.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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