Tiefbahnhof in Zürich:Für die Überholspur

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Fünf Stockwerke unter dem Züricher Hauptbahnhof entsteht eine gewaltige unterirdische Station, die den Verkehrskollaps auf der Schiene verhindern soll.

Klaus C. Koch

Oben auf den Bahnsteigen des Züricher Hauptbahnhofes hasten zu Stoßzeiten Tausende Pendler zu ihren Zügen. Auf Gleis 17 wartet ein französischer TGV, daneben ein ICE mit Kurs Interlaken. In dem ganzen Gewühl, eher unscheinbar im Tiefparterre zwischen Schnellimbiss, Rolltreppe und einer Boutique, findet sich eine Eisentür. "Unbefugten", so warnt ein Schild, "ist der Zutritt verboten."

Gleich hinter dieser Tür öffnet sich ein mehrere Fußballfelder großer Schlund, der aussieht, als könne er den 150 Jahre alten Verkehrsknoten der Bankenmetropole mit seinen reizvollen Kolonnaden, Uhrentürmchen und Mauervorsprüngen von einem Augenblick auf den anderen verschlingen. Über eine Rampe weist Roland Kobel, Chef des Milliardenprojekts namens Durchmesserlinie, den Weg in die Großbaustelle. Gleißendes Scheinwerferlicht, Stahlbetonsäulen und Schächte - auf der derzeit größten innerstädtischen Baustelle der Schweiz werden Milliarden vergraben, versenkt, Schienen und Tunnelröhren verschweißt.

Fünf Stockwerke tief unter der Goldküste, wie die Schweizer das untere rechte Zürichseeufer liebevoll nennen. Und tief unter zwei Flüssen, von denen der eine, die Sihl, mit plötzlichen Schmelzwasserschüben die Merkmale eines Gebirgsbaches hat, und der andere, die Limmat, sich in wenigen hundert Meter Entfernung aus dem Zürichsee speist.

Gäbe eine der Stützwände nach, könnten - so scheint es - Millionen Kubikmeter Wasser die Station unterspülen, die bislang ein Kopfbahnhof ist. Dann wäre der denkmalgeschützte Südtrakt des Züricher Hauptbahnhofes aufgeständert wie ein Schiff im Trockendock und lediglich von den Grundmauern umliegender Bürgerhäuser, Einkaufspassagen und tief gründender Kreditinstitute am Wegschwimmen gehindert.

Eingeklemmt zwischen den oberen und den zuunterst liegenden Stockwerken bleibt auch nicht mehr viel Platz für die Sihl. "Die sieht hier so unscheinbar aus", sagt Bauleiter Urs Lappert mit einem kurzen Blick auf das träge plätschernde Nass. Doch wie 2008 kann die Sihl vor allem im Frühjahr binnen kürzester Zeit auf über 100 Kubikmeter pro Sekunde anschwellen, die dann mit Wucht unter den Gleisen durchrauschen.

Ingenieure und Bauarbeiter haben den gigantischen Keller, durch den künftig auch Fernzüge zwischen Bern, Genf, Zürich und St.Gallen verkehren, nach allen Regeln der Baukunst gesichert, verdübelt und in schweren Fundamenten verankert. Sie haben das bruchstückhafte Geschiebe der Voralpenmolasse zu einer neuen Gesamtmasse geformt - mit gewaltigen Röhren und bis zu drei Meter dicken Betonplatten, die verhindern, dass Grundwasser von unten den neuen Durchgangsbahnhof wie einen Korken aufschwimmen ließe.

Aber das alles konnte nicht vor Überraschungen schützen. "Stürzt der Hauptbahnhof ein?", fragte die Boulevardpresse aufgeregt, als im vergangenen Jahr ein Mikrostollen nachgab und 30 Kubikmeter Erdreich nachsackten. Doch die Nebenbaustelle war schnell wieder im Griff.

Mehr als zwei Milliarden Schweizer Franken, umgerechnet 1,33 Milliarden Euro, werden hier auf 9,6 Kilometer Länge verbohrt, verrohrt und ausbetoniert. Dazu noch zwei Brücken, über die die Züge das Gleisgewirr im Einfahrtsbereich kreuzungsfrei queren, um dann im Untergrund zu verschwinden.

Von 2013 an sollen zu Stoßzeiten alle zwei Minuten bis zu 400 Meter lange Doppelstockzüge 130.000 zusätzliche Pendler aufnehmen, 30 Prozent mehr als bislang. Die vier Schienen im Untergeschoss sollen es möglich machen, beinahe so viel Züge durchzuschleusen wie auf den 15 Gleissträngen oben im Erdgeschoss. Denn dort herrscht Stop-and-go-Verkehr, weil die Züge bei der Einfahrt permanent Trassen kreuzen müssen, auf denen andere den Kopfbahnhof wieder verlassen.

Vorsichtshalber wurde beim Bau des Weinbergtunnels, der das Verkehrsgewühl zwischen Universität und Oerlikon unterfährt, minimalinvasiv vorgegangen. "Unter den Studios von Radio DRS durften wir nicht sprengen", erklärt Kobel. In Oerlikon, wo die bereits vorhandene Trasse im Hügel um 18 Meter verbreitert werden musste, werden die Anwohner auf 700 Meter Länge durch vier Meter hohe Lärmschutzwände geschützt. Ähnlich wie bei den Stauseen über der neuen Gotthardbahnröhre wurden Hunderte Messpunkte mit millimetergenauen Lasermessinstrumenten und Sensoren verteilt, um jederzeit über Setzungen und Absenkungen informiert zu sein. Denn mit denen müssen Ingenieure im Untergrund stets rechnen - und für solche Fälle gewappnet sein.

Trotz hoher Umweltstandards bringt die Durchmesserlinie mit zwei Millionen Kubikmeter Erdaushub viel Staub, Lärm und Schmutz für die Anlieger mit sich. Doch bei einer Abstimmung Ende 2001 sprachen sich 82 Prozent der Bevölkerung für den Bau aus.

© SZ vom 26.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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