Test:Halbstarker im Nadelstreifenanzug

Lesezeit: 3 min

Äußerlich zeigt der AMG S 63 nur in Details die gewaltige Leistung. (Foto: Daimler AG)

Der Mercedes-AMG S63 ist der Traum von Pubertierenden: Das Auto bietet den Luxus der S-Klasse mit viel zu viel Leistung. Doch im Test zeigt sich: Mehr PS bedeuten nicht immer mehr Fahrspaß.

Von Felix Reek

Ein Mercedes bedeutet Eleganz. Ein Unterstreichen des Status quo. Angeben, aber eher unterschwellig, durch die Wahl der Marke. Bloß keine Spoiler, grelle Farben oder irgendein anderer Schnickschnack. Ein AMG ist das genaue Gegenteil davon. Der werkseigene Tuner ist so etwa wie die Halbstarken-Abteilung innerhalb von Daimler. Was vorher wie ein schnöder Mercedes für den Vorstandschef aussah, weckt, nachdem er von den AMG-Leuten überarbeitet wurde, vor allem Begehrlichkeiten bei dessen halbwüchsigem Sohn. Raubtieroptik, mächtige Luftansaugöffnungen, brüllend laute Auspuffanlagen.

Der Mercedes-AMG S 63 4MATIC+ ist in da keine Ausnahme. Am Heck glänzen riesige Endrohre, die goldenen Bremssättel sind deutlich zwischen den mattschwarzen Felgen zu erkennen. Die Leistungsdaten passen zum kraftstrotzenden, breitreifigen Auftritt: Ein dekadenter 4,0-Biturbo-V8 produziert 612 PS und Beschleunigungswerte auf Sportwagen-Niveau.

Im Inneren ist alles anders. Leder, Chrom, eine loungeartige Beleuchtung, die sich farblich anpassen lässt. Die Vordersitze fahren automatisch nach vorne, um den Einstieg hinten zu erleichtern. Dort finden sich zwei tief eingelassene Einzelsitze, oder besser: Sessel. Nimmt der Fahrer Platz, passt sich automatisch die Kopflehne an und eine verchromte Apparatur, die sonst als Lautsprecher dient, reicht ihm den Gurt an. Die Hände des Fahrers liegen auf einem Wildlederlenkrad und sein Blick trifft auf zwei große Displays sowie sehr viele Knöpfe, Schalter und Touchflächen. Irgendwie ist der AMG S 63 eben doch eine S-Klasse - die Luxuslinie, in der Daimler traditionell zeigt, was alles möglich ist.

Bei Dunkelheit springt zum Beispiel eine Nachtsichtkamera an. Sie markiert Fußgänger und Radfahrer in einem Videobild zwischen Geschwindigkeitsanzeige und Drehzahlmesser rot. Und es gibt die Vorstufe zum autonomen Fahren, ein Zusammenspiel aus Staupilot, Abstandsmesser und Fahrbahnmarkierungswarner, die das Auto selbständig steuern und sogar automatisch der vorgegebenen Geschwindigkeitsbegrenzung anpassen. Eine Spielwiese für Elektronik-Freaks.

Bloß, wo ist der AMG-Halbstarke? Irgendwo muss er doch in diesem tiefergelegten S-Klasse-Coupé stecken. Schafft der Druck auf den Startknopf Aufmerksamkeit? Nichts passiert. Zumindest, wenn im Hinterkopf verankert ist, dass dieser Mercedes 612 PS hat.

Der Motor startet im "Comfort"-Modus tief brummend, so wie es einem V8 eigen ist. Klingt aber erstaunlich zurückhaltend. Daran ändert sich auch nicht viel, wenn die Fahrmodi wechseln. Erst ab Sport+ spritzt bei jedem Runterschalten die Motorsteuerung Benzin ein, das nicht gezündet wird und zu lautstarken Fehlzündungen führt. Der Pubertierende jubiliert. Doch selbst dann ist der S 63 AMG im Vergleich zu anderen Autos mit diesem Überschuss an Leistung überraschend gesittet. Das liegt an der perfekten Dämmung des Autos und an der Doppelverglasung der Fenster. Allzu laut wird es in diesem Mercedes nie.

Dazu passt das Fahrverhalten des S 63. Seltsam entrückt ist es, losgelöst von Straße und Auto. Natürlich fährt sich der AMG ganz vorzüglich. Die Lenkung ist so präzise, wie es Kunden der Sportabteilung von Mercedes gewohnt sind. Überhaupt ist das über fünf Meter lange Coupé erstaunlich einfach zu steuern, die Größe fällt nie negativ auf. Mancher Kompaktwagen dürfte keinen so kleinen Wendekreis haben. Und die überbordende Leistung ist stets abrufbar, der S 63 strotzt geradezu vor Kraft. Doch ein wirkliches Gefühl für die Straße vermittelt der Wagen nicht. Der S 63 tut alles, sie von seinen Insassen fernzuhalten. Ob Tempo 50 oder 250, im AMG macht das keinen wirklichen Unterschied.

Was die Frage aufwirft, für wen ein solches Fahrzeug konzipiert wurde. Natürlich bedarf es keiner Diskussion darüber, ob ein Auto mit 612 PS einen Sinn ergibt. Die Antwort darauf erübrigt sich. Aber noch weniger schlüssig ist ein Auto mit überdimensionierter Leistung, das nicht weiter auffällt. Wer sich einen Sportwagen zulegt, will das normalerweise signalisieren: Hallo, hier bin ich, ich fahre einen Lamborghini. Der ist neongrün, sieht aus wie ein Überschall-Kampfjet und so fährt er sich auch. Und: Ich stehe dazu.

Der AMG S 63 hingegen ist der Halbstarke im Nadelstreifenanzug, für all jene, die glauben, mehr PS bedeuten mehr Fahrspaß, die rasen wollen, was aber möglichst niemand mitbekommen soll. Er ist allerdings der Beweis dafür, dass dies ein Irrtum ist. Hätte er nur halb so viel Leistung, es würde keinen Unterschied machen. Der AMG S 63 wäre immer noch eine bequeme, luxuriöse, stets kraftvolle, perfekte Limousine mit viel zu viel Leistung - nur ein echter Sportwagen, das ist dieser Mercedes nicht.

Das Testfahrzeug wurde vom Hersteller zur Verfügung gestellt.

© SZ vom 27.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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