Nahverkehr:Nachbar am Steuer

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Ein typischer Bürgerbus unterwegs in der ländlichen Region rund um den Chiemsee. (Foto: Abwasser- und Umweltverband Chiemsee)

Oftmals gibt es auf dem Land nicht ausreichend Nahverkehrsverbindungen. Bürgerbusse sollen die Situation verbessern. Unsere Autorin ist mitgefahren.

Von Martina Kind

Rosa Seehuber steuert ihren Mercedes Sprinter durch kleine Dörfer, durch Ellerding zum Beispiel oder Gollenshausen. Orte, deren Namen man einmal liest und gleich wieder vergisst, wenn man nicht gerade von hier kommt. Auch Aiglsham mit seinen knapp 60 Einwohnern im oberbayerischen Landkreis Traunstein ist so ein Ort. Hier hält ein Linienbus mit der Nummer 9438 einmal morgens um zehn vor sieben, und dann wieder um halb zwei mittags. Darüber hinaus gibt es so hier gut wie nichts an öffentlichem Nahverkehr. Wäre da nicht Rosa Seehuber mit ihrem weiß lackierten Kleinbus.

Um Punkt 8.33 Uhr ist sie in Aiglsham, "pünktlich wie immer", wie sie sagt. Die 73-Jährige bremst ab und fährt langsam an der Haltestelle vorbei. Gähnende Leere. "An einigen Haltestellen steigt nie jemand ein", sagt die zierliche Rentnerin in der grauen Jogginghose. "Wenn da doch mal einer steht, dann ist das eine absolute Ausnahme." Dann tritt sie wieder aufs Gas.

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Ein Euro pro Fahrt - "günstiger geht's ja nicht"

Ein paar Orte weiter wartet tatsächlich jemand. Bernhard Staber will in die nächste Gemeinde, zum Einkaufen. "Ich bin sonst immer mit dem Fahrrad gefahren, das sind so sechs Kilometer", erzählt er. "Im Sommer ist das kein Problem, aber im Winter wird es manchmal schwierig." Einen Führerschein hat der 54-jährige Betontechniker nicht. "Ich habe den kleinen Bus hier ständig rumfahren sehen, wusste aber nie, für wen der eigentlich gedacht ist." Seit er das wisse, nutze er ihn regelmäßig. "Günstiger geht's ja nicht."

Einen Euro kostet es Erwachsene, wenn sie mit dem Bürgerbus Chiemsee in die nächste Gemeinde fahren wollen. Einen Euro fünfzig, wenn es noch weiter gehen soll; Kinder bis 14 Jahre zahlen die Hälfte. Seit 2003 ergänzt der Bürgerbus Chiemsee den klassischen öffentlichen Nahverkehr, der in der Region weitgehend abhängig ist von der Schülerbeförderung. "Weil die Landkreise ihre Schüler jeweils zu den eigenen weiterführenden Schulen bringen, fehlten vor allem Verbindungen, die die Grenzen der Landkreise überschreiten", berichtet Hans Zagler, Geschäftsführer der Rosenheimer Verkehrsgesellschaft. Dabei habe es großen Bedarf gegeben, besonders nach Verbindungen zu den Chiemgau-Thermen oder den Regionalbahnhöfen in Bad Endorf und Prien.

Auf dem Land sind die Wege bekanntlich weit

Aber auch einfach für den Wocheneinkauf oder den Arztbesuch im nächstgrößeren Ort - auf dem Land sind die Wege bekanntlich weit. Der Bürgerbus schließt seit einigen Jahren diese Lücken; für zehn Gemeinden in den Landkreisen Rosenheim und Traunstein bringe er eine erhebliche Verbesserung der Mobilität, konstatiert Zagler.

"Wäre der Bürgerbus nicht, käme ich hier gar nicht weg", bestätigt der 67-Jährige Hans T., der seinen vollen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte. Seit vielen Jahren nutzt der Rentner aus dem 1600-Seelen-Ort Pittenhart den Bürgerbus; hauptsächlich, um zum Arzt oder zur Krankengymnastik in die fünf Kilometer entfernte Gemeinde Obing zu kommen. "Meine Termine lege ich nur noch nach dem Fahrplan."

Rosa Seehuber am Steuer des Bürgerbusses. (Foto: Martina Kind)

Momentan allerdings kann er diese nur montags, mittwochs oder freitags vereinbaren. Von November bis Ende März fährt der Bürgerbus im Wintermodus, also nur drei Tage die Woche. Von April an dreht er im Normalfall von Montag bis Freitag, acht bis 17 Uhr, seine Runden. Die Drei-Tage-Woche diene den Fahrern zur Entspannung, erklärt Zagler, "die machen das ja alle ehrenamtlich und brauchen auch mal eine Pause". Denn das ist ja das Besondere am Prinzip Bürgerbus: Unter dem Motto "Bürger fahren Bürger" schließen sich Ehrenamtliche zusammen, um in ihren Gemeinden für Mobilität zu sorgen. 300 bis 350 solcher Initiativen gibt es bundesweit, schätzt Franz Heckens vom Verein "Pro Bürgerbus NRW".

Organisiert und betreut wird der Bürgerbus Chiemsee von der Rosenheimer Verkehrsgesellschaft, Unterstützung gibt es außerdem vom Abwasser- und Umweltverband Chiemsee. In den Jahren 2000 und 2001 habe es eine "Aufbruchstimmung" in den Gemeinden gegeben, sagt Zagler. "Etwa 300 Bürger engagierten sich bei der sogenannten Chiemseeagenda 21 in verschiedenen Arbeitskreisen, zum Thema ÖPNV gab es allein drei eigene Initiativen." So nahm der Bürgerbus im März 2003 den Betrieb auf; seitdem fährt er als einzige öffentliche Linie in Südbayern, die ausschließlich von Ehrenamtlichen betrieben wird.

Probleme gibt es oft mit den Finanzen

Auch in vielen anderen Bundesländern gab und gibt es ähnliche Initiativen. Nicht jede ist auf Dauer erfolgreich. "Die wesentlichen Probleme treten in der Vorbereitungszeit auf", sagt Franz Heckens vom Verein "Pro Bürgerbus NRW". Oft scheitere der Versuch am Geld, weil eine Kommune die Defizite aus den Betriebskosten nicht übernehmen kann (oder will). Manchmal können sich der Bürgerbusverein und das Verkehrsunternehmen nicht auf geeignete Fahrtstrecken einigen. "Für die meisten Vereine ist es außerdem eine dauernde Herausforderung, immer neue Fahrerinnen und Fahrer zu gewinnen", sagt Heckens.

Rosa Seehuber indes steuert gerne den Bürgerbus. "Kein Tag ist wie der andere", erzählt sie. "Mal nehme ich nur ein, zwei Leute mit, das andere Mal muss ich sogar welche stehen lassen, das ist immer unangenehm." Letzteres komme in den Ferien häufig vor, denn der Bus werde gerne und viel von Touristen genutzt. Die kann Seehuber gleich mit Geheimtipps versorgen - "dann wissen die auch, wo die schönste Uferstelle des Chiemsees ist".

Ihr Kollege Tilo Teply, der sie um die Mittagszeit herum am Steuer ablöst, ist vor 21 Jahren mit seiner Familie von München nach Amerang gezogen. Von seinen Mitbürgern würde er sich ein größeres Umweltbewusstsein wünschen. Gerade in Sachen Mobilität gebe es ein "Kopfproblem": "Der Nachhaltigkeitsgedanke und vor allem das Vertrauen zu den Mitmenschen fehlen. Stattdessen will jeder eigenständig und unabhängig sein, jeder meint, ein eigenes Auto haben zu müssen. Es ist fast wie ein Zwang."

Tilo Teply engagiert sich nicht nur als Fahrer beim Bürgerbus - er hat auch ein Carsharing-Projekt initiiert. (Foto: Martina Kind)

Der Weg zu einer klimafreundlicheren Mobilität auf dem Land sei noch lang, sagt Teply. 2006 hatte er zusammen mit anderen Dorfbewohnern die "Ameranger Autogemeinschaft" initiiert, ein Carsharing-Projekt. Dabei können sich mehrere Bürger gemeinsam ein Auto teilen, darunter befindet sich auch ein Renault Twizzy - ein zweisitziges Elektroauto, das Jugendliche ab 16 Jahren mit einem Rollerführerschein fahren dürfen, ab 17 unbegleitet. "Als wir den bekommen haben, gab es viel positive Rückmeldung von den Familien, das Interesse war groß", sagt Teply. "Am Ende aber blieb es doch wieder nur bei Lippenbekenntnissen."

Der Gemeinde etwas zurückgeben

In den Bürgerbus Chiemsee steigen nach Angaben von Hans Zagler pro Jahr knapp 6000 Menschen ein, im Schnitt sind es 30 am Tag. Mit seinen 50 Jahren ist Teply der jüngste im Team der freiwilligen Fahrerinnen und Fahrer, die meisten der knapp 30 Ehrenamtlichen sind bereits über 70 - daher stand der Bürgerbus im vergangenen Jahr beim ersten Lockdown auch knapp drei Monate lang still. Viele Ehrenamtliche zählten zur Risikogruppe, erzählt Zagler. Nur 16 der insgesamt 27 Fahrer seien aktuell unterwegs, zwei- bis dreimal im Monat sind sie im Einsatz. "Es sind überwiegend Rentner, die ihrer Gemeinde etwas zurückgeben wollen."

Finanziell gesehen trägt sich auch ein Bürgerbus nicht. Jährlichen Einnahmen von 12 000 Euro stehen laut Zagler Ausgaben von 30 000 Euro gegenüber - für Sprit, Leasing, Versicherung. Das Defizit tragen die Kommunen und Landkreise. Ein klassischer Linienbus, der werktags im Stundentakt die Gemeinden verbinden und auch die Landkreisgrenzen überschreiten würde, wäre zwar besser, sagt Zagler. "Doch der ist nicht finanzierbar." Man werde den Bürgerbus also noch länger brauchen.

Rosa Seehuber ist seit genau zehn Jahren dabei, gerade erst hat sie ihren Personenbeförderungsschein verlängern lassen. Weitere fünf Jahre mache sie das noch, dann sei Schluss mit der Fahrerei, immerhin sei sie dann schon 78, erzählt sie und zeigt dann kurz nach links. Der Nebel ist verschwunden, der Chiemsee glitzert in der Morgensonne, dahinter das Alpenpanorama. "So, jetzt wissen Sie auch, warum ich das mache", sagt sie. "Jedes Mal so ein Ausblick, da fährt man einfach gern spazieren - ob mit oder ohne Fahrgäste."

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