Autonomes Fahren:Von wegen Zeitung lesen

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Hände weg vom Steuer: An der Technischen Universität München untersuchen Wissenschaftler die Auswirkungen des autonomen Fahrens. Dabei geht es auch darum, wie schnell ein Fahrer reagieren kann. (Foto: Christoph Soeder/dpa)

Schon bald sollen Autos bestimmte Situationen autonom bewältigen. Die entscheidende Frage lautet dann: Was darf der Fahrer nebenbei machen? Die ernüchternde Antwort darauf: nichts.

Von Christina Müller

Bremsen, anfahren, rollen, wieder bremsen. Aufpassen, dass man dem Vordermann nicht hinten drauf fährt. Stop-and-go-Verkehr ist lästig und unproduktiv. Aber bald fährt das Auto von alleine. Zeitung lesen, Mails checken, frühstücken - ganz legal: Das ist die Zukunft der selbstfahrenden Autos. Sie hört sich wahnsinnig praktisch an. Und glaubt man den Ankündigungen der Hersteller, kann es eigentlich nicht mehr lange dauern. Wie soll es auch anders sein, wenn Tesla sein System bereits seit Jahren "Autopilot" nennt. Doch die Wahrheit ist: Bis man wirklich das Steuer komplett aus der Hand geben kann, werden noch einige Jahre vergehen. Denn erst einmal müssen Mensch und Auto lernen, sich aufeinander abzustimmen. Und das ist gar nicht so einfach.

Was man als Kunde heute in einem Auto kaufen kann, sind so genannte "Level-2-Systeme." Der Fahrer muss permanent den Verkehr und die Assistenzsysteme überwachen. Hände vom Lenkrad nehmen oder schnell eine Nachricht schreiben? Nicht erlaubt. Die nächste Entwicklungsstufe sind jedoch nicht Fahrzeuge, die komplett vom Start bis zum Ziel autonom unterwegs sind (Level 4), sondern nur in bestimmten Situationen den Fahrer ersetzen. Der Hersteller garantiert, dass sein System dann die Kontrolle übernimmt. Technisch ausgedrückt geht es um "Level-3-Systeme". Als erster Hersteller hat Audi verkündet, im 2017 vorgestellten A8 die Technik für einen Staupiloten verbaut zu haben, der es dem Fahrer ermöglicht, sich in bestimmten Situationen ganz dem selbstfahrenden Auto anzuvertrauen. Freigeschaltet ist die Funktion allerdings auch ein Jahr später noch nicht. Das liegt laut Audi ausschließlich daran, dass bestimmte international gültige Vorschriften noch nicht auf automatisierte Fahrzeuge angepasst wurden. Sprich: Es gibt aktuell keine Zulassung für derartige Level-3-Systeme.

Abgesehen von Zertifizierungshürden müssen sich die Hersteller mit einem anderen Problem beschäftigen: Wenn das Auto nur bestimmte Situationen sicher beherrscht, muss es seinen Fahrer rechtzeitig darüber informieren, dass er wieder selbst ans Steuer muss. Maschine und Mensch müssen sich abstimmen. Und das ist komplizierter, als es scheint. Denn rechtliche Vorgaben, wie lange die Übernahmezeit sein muss, gibt es nicht. Das vom Bund mit 36,3 Millionen Euro geförderte Forschungsprojekt "Ko-Haf" (kooperatives hochautomatisiertes Fahren), an dem sowohl Autohersteller als auch Zulieferer und Universitäten beteiligt waren, liefert jetzt umfassende Daten darüber, welche Faktoren eine Rolle spielen, wenn Auto und Fahrer wechselseitig für die Sicherheit verantwortlich sind. Doch wie die Hersteller diese Erkenntnisse nutzen oder was der Gesetzgeber daraus für rechtliche Rahmenbedingungen ableitet, ist offen.

Unter der Führung von Wissenschaftlern der TU München testeten über 1700 Menschen das autonome Fahren im Fahrsimulator und teilweise auch direkt im realen Autobahnverkehr. Das dort benutzte Auto war mit Systemen ausgestattet, die dem Fahrer signalisierten, dass er die Kontrolle komplett abgeben kann, teilweise war das Fahrzeug bis zu eineinhalb Stunden autonom unterwegs. Als Absicherung gab es einen Aufpasser, der immer vom Beifahrersitz aus hätte eingreifen können. Zwischendurch kam es immer wieder zu Situationen, in denen das Auto den Fahrer aufforderte, wieder selbst das Steuer zu übernehmen - damit erlebten die Probanden genau das, was der nächste Schritt hin zum selbstfahrenden Auto sein wird.

Die Forscher wollten wissen: Was passiert, wenn ein Mensch am Steuer sitzt, aber nicht mehr auf den Verkehr achten muss? Und wie kann man sicherstellen, dass er wieder rechtzeitig das Kommando übernimmt, wenn die Technik an ihre Grenzen gerät. Und überhaupt: Wann ist eine Aufforderung "rechtzeitig"? Professor Klaus Bengler, Leiter des Instituts für Ergonomie an der TUM formuliert es so: "Gibt es positive oder negative Effekte auf die Übernahmezeit bei Tätigkeiten, die jetzt noch am Steuer verboten sind, wie zum Beispiel Essen oder auf mit dem Handy Nachrichten zu schreiben?" Und er schiebt sofort hinterher: "Die magische Sekundenzahl, die jeder hören will, die gibt es nicht."

Jedes Blinzeln und jedes Ruckeln im Sitz wird künftig vom Auto registriert und interpretiert

Die erste Erkenntnis aus den Versuchen ist wenig überraschend: Wenn der Fahrer nicht mehr auf den Verkehr achten muss und auch sonst keine andere fordernde Aufgabe hat, wird er nach einer gewissen Zeit unaufmerksam und träge. "Automationseffekt" nennen das die Fachleute. Dass man dem entgegenwirken kann, haben die Fahrversuche der Münchner Forscher ebenfalls gezeigt. "Tetris spielen" ist laut Jonas Radlmayr, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter die Versuche betreute, eine gute Möglichkeit, den Fahrer geistig so sinnvoll zu beschäftigen, dass er schnell wieder aufnahmefähig ist, wenn das Auto nicht mehr alleine steuern kann. Die Übernahmezeit verlängern würden dagegen alle Tätigkeiten, bei denen der Fahrer etwas in beiden Händen hält - keine gute Nachricht für alle, die sich im Stop-und-Go-Verkehr schon mit dem Kaffeebecher in der einen und der Zigarette in der anderen Hand sehen.

Um überhaupt eine sinnvolle Übernahmezeit bestimmen zu können, braucht das Assistenzsystem möglichst viele Informationen über den aktuellen Zustand des Fahrers. Das bedeutet in der Praxis: Jedes Blinzeln und jedes Ruckeln im Sitz wird registriert und interpretiert. Das geht zum Beispiel mit Sensoren im Sitz, die unter anderem feststellen können, wenn sich der Fahrer in eine andere Richtung dreht. Hebt er vielleicht gerade etwas im Fußraum auf, könnte das bei einem plötzlich notwendigen Fahrmanöver deutlich kritischer als wenn er im bordeigenen Entertainmentsystem eine Mail liest. Das System muss also so intelligent sein, dass es weiß, was der Fahrer gerade macht - und dann die jeweils passende Übernahmezeit berechnen. Dass diese Zeitspanne nach den Untersuchungen in Ko-Haf außerdem davon abhängt, wie herausfordernd die Situation ist, die der Fahrer dann wieder selbst bewältigen muss, macht es zusätzlich kompliziert.

"Die Krux ist, dass die jetzt schon vorhandenen Systeme in vielen Fällen gut funktionieren und dem Fahrer eine Sicherheit vermitteln, die es in der Realität noch nicht gibt", warnt Klaus Bengler. Die Unwissenheit der Autofahrer sei groß, was man denn nun schon nebenbei machen dürfe und was nicht. Aktuell lautet die Antwort: Nichts. Und das wird bis auf weiteres auch so bleiben.

© SZ vom 15.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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