Wahrnehmungspsychologie:Schüsse, Waffen, Täter - die es niemals gab

Zum Amoklauf in München haben viele Zeugen falsche Angaben gemacht. Dahinter steckt kein böser Wille: Stresssituationen vernebeln das Gehirn.

Von Felix Hütten

Ausnahmesituation in München: Drei Täter, schwere Waffen, mehrere Anschlagsorte. Am Freitagabend, es ist kurz nach 18 Uhr, überschlagen sich die Meldungen. Mehrere Menschen wollen Schüsse in der Münchner Innenstadt gehört und mehrere Täter gesehen haben - wo es nie welche gab.

Nicht auszuschließen, dass sich der ein oder andere Anrufer bei der Polizei einen Scherz erlaubt hat und mit der Angst der Menschen spielen wollte. Wahrscheinlicher aber ist, dass Zeugen tatsächlich Täter gesehen oder Schüsse gehört und dies im vollen Glauben der Polizei berichtet haben. Für die Ermittler stellen solche Zeugen ein Dilemma dar. Einerseits sind sie auf die Angaben der Menschen angewiesen. Zeugenaussagen vom Tatort liefern oft wichtige Hinweise zu den Tätern, zu Waffen, zu möglichen Verstecken. Andererseits ist von anderen Anschlägen und von der täglichen Arbeit vor Gericht bekannt, dass Zeugen oftmals danebenliegen und die Polizei, wie auch diesmal in München, in die Irre führen.

Das ist keine böse Absicht, das Gehirn spielt besonders in Stresssituationen den allermeisten Menschen einen Streich. Angst und Aufregung führen dazu, dass der Körper vermehrt Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol ausschüttet. Wissenschaftler der Universität Portsmouth in Großbritannien konnten in einem Versuch zeigen, wie das Erinnerungsvermögen ihrer Probanden besonders unter Anspannung und körperlicher Aktivität abnimmt. Vor dem Versuch wurden die Testpersonen über Details zu einem Raubüberfall informiert. Anschließend sollten sie auf einen Boxsack einprügeln. Im Vergleich zur Kontrollgruppe, die gemütlich Pause machte, konnten sich die Box-Probanden deutlich weniger Informationen aus dem Eingangsbriefing merken.

Der Körper schaltet auf Fluchtmodus

Stresshormone lösen unter Anspannung einen Tunnelblick aus. Das Gehirn schaltet auf Flucht- oder Angriffsmodus und blendet Informationen aus, die hierfür nicht wichtig erscheinen. Im Fokus steht die Bedrohung, was rechts und links passiert, verschwimmt. Deshalb sind Aussagen von Zeugen, die sich zuvor in unübersichtlichen Situationen befanden oder gar Angst um ihr Leben hatten, für die Polizei oftmals wertlos.

Ein weiteres Problem sind Ereignisse wie Terrorangriffe oder Amokläufe, bei denen meist Hunderte Menschen innerhalb von Sekunden zu Zeugen werden. In solchen Situationen spielt der sogenannte Fehlinformationseffekt eine wichtige Rolle.

Zahlreiche Studien von Experimentalpsychologen zeigen: Menschen lassen sich häufig dazu verleiten, zu glauben, sie hätten einen Täter oder eine Waffe gesehen, wenn diese Nachricht die Runde macht. Ähnliche Effekte lassen sich beobachten, wenn man die Erwartungshaltung von Zeugen prüft. So kommt es häufig vor, dass Menschen zum Beispiel einen schwarzgekleideten Mann mit Bart gesehen haben wollen, wenn sie grundsätzlich einen islamistischen Angriff fürchten.

"Der Mann hatte eine Maschinenpistole in der Hand, oder?"

Die renommierte Wissenschaftlerin Elizabeth Loftus von der University of California hat dieses Phänomen mit dem Stoppschildversuch untersucht. Versuchspersonen beobachteten einen simulierten Autounfall an einer Kreuzung mit Stoppschild. Nach der Szene suggerierten die Forscher der Hälfte der Teilnehmer, es sei ein Vorfahrtschild gewesen. Bei der anschließenden Befragung waren sich die Probanden in der Gruppe "Vorfahrtschild" ziemlich sicher, ein solches gesehen zu haben - obwohl das nicht stimmte.

Um solche verfälschten Aussagen zu verhindern, versuchen Ermittler deshalb bei Befragungen, zunächst so wenig Fragen wie möglich zu stellen. Hauptziel ist es, Erinnerungen möglichst nicht zu beeinflussen. Auch Suggestivfragen wie "Der Mann hatte eine Maschinenpistole in der Hand, oder?" können Zeugen dazu verleiten, genau dieses Bild in ihre Erinnerung einzubauen. Besonders bei Kindern werden solche Effekte beobachtet. Gleiches gilt für negativ formulierte Fragen wie "Haben Sie nicht gehört, wie der Täter geschossen hat?".

Stresssituationen können zudem dazu führen, dass Menschen ihre Wahrnehmungen - auch im Nachhinein - falsch interpretieren. So kann es passieren, dass aus einer zugeschlagenen Autotür ein Schussgeräusch wird, oder aus einem Instrumentenkoffer eine Maschinenpistole. Allerdings können auch unglückliche Umstände zu Falschaussagen führen. In München hatten Zeugen zwei Polizisten fälschlicherweise für Täter gehalten. Die Beamten trugen offenbar keine Uniform.

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