Verhaltensforschung:Affen mit Charakter

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Auch Tiere zeigen deutliche Unterschiede in ihrer Persönlichkeit: Proaktive Mäuse, einzelgängerische Affen und aufgeschlossene Enten - wer sich von der Masse abhebt, ist im Vorteil.

Katrin Blawat

Solange Susie ihre Ruhe hatte, war alles in Ordnung. Meist lag sie nur herum, weit ab von ihren Artgenossen. Aus ihrem Phlegma erwachte die Bärendame nur, wenn ihr andere Tiere zu nahe kamen.

Gesellige Rhesusaffen haben zwar ein stärkeres Immunsystem, aber auch mehr Kontakt zu Krankheitserregern. (Foto: Foto: AP)

Robert Fagen von der University of Alaska, der Susie und ihre Artgenossen drei Sommer lang auf einer Insel im südlichen Alaska beobachtete, beschreibt die Bärin in wenig schmeichelhaften Worten:

Aufbrausend sei sie, jähzornig und kauzig. Diese Charakterzüge bemerkte Fagen bei mehreren Bären auf der Insel. Die anderen Tiere erlebte er hingegen als verspielt und gesellig.

Fagen ist nicht der einzige Wissenschaftler, der Tieren eine Persönlichkeit zugesteht. Nach Beobachtungen im Freiland und in Laborversuchen haben Forscher in den vergangenen Jahren bei mehr als 100 Tierarten Charakterunterschiede zwischen einzelnen Individuen ausgemacht: bei Einsiedlerkrebsen, Tintenfischen und Stichlingen ebenso wie bei Kohlmeisen, Affen und Löwen.

"Auf den ersten Blick erstaunt es, dass es überhaupt verschiedene Persönlichkeiten bei Tieren gibt", sagte Alison Bell von der University of Illinois auf einem international besetzten Kongress, zu dem das Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld eingeladen hatte.

Bell untersucht die Persönlichkeit von Stichlingen, und sie fragt sich: Wenn sich ein einzelner Fisch dank seiner Unerschrockenheit die beste Nahrung und die besten Fortpflanzungspartner sichert - warum haben dann nicht alle Tiere den gleichen Charakter?

Diese Frage stellte sich auch der Primatologe John Capitanio von der University of California. Er selbst bezeichnet sich als Einzelgänger; vermutlich hätte er Verständnis für die kauzige Bärendame Susie.

Bei seinen Studien über Rhesusaffen erkannte Capitanio schnell, dass er unter seinen Forschungsobjekten Geistesverwandte hat, die nur selten Artgenossen das Fell kraulen und immer ein Stück abseits sitzen.

Rhesusaffen profitieren in der Regel von der Gemeinschaft

Gesund könne das nicht sein, vermutete Capitanio zunächst. Immerhin zeigen zahlreiche Studien, dass Rhesusaffen von der Gemeinschaft mit anderen profitieren. So ist das Immunsystem geselliger Rhesusaffen kräftiger als das von notorischen Alleingängern.

In Einzelfällen aber, so Capitanio, könnte auch der Hang zum Einzelgängertum Vorteile haben. Denn wer sich von Artgenossen fernhält, verringert damit auch den Kontakt zu Krankheitserregern.

Bei Schimpansen an der Elfenbeinküste etwa haben Forscher beobachtet, dass vor allem die besonders geselligen Individuen eher an Erkrankungen der Atemwege leiden und häufiger tödlich verunglücken.

Es kommt also weniger darauf an, ob ein Individuum gesellig oder kauzig ist, feige oder mutig, faul oder aktiv. Auch auf den ersten Blick negative Charakterzüge können manchmal vorteilhaft sein.

Entscheidend ist vielmehr, mit seinem Charakter aus der Masse hervorzustechen. Zu diesem Schluss kommt Franjo Weissing von der Universität Groningen, der die Persönlichkeitsfrage mit Hilfe von Computersimulationen untersucht.

"Eine ausgeprägte Persönlichkeit zu haben ist langfristig nur dann von Vorteil, wenn es nicht zu viele Individuen des gleichen Typs gibt", sagt Weissing.

Singvögel wie die Blaukehl-Hüttensänger bestätigen diese Hypothese. Die aggressiven Exemplare dieser Vögel verhalten sich im Kolonialherren-Stil: Skrupellos stehlen sie Reviere. Doch erfolgreich ist diese Strategie nur, solange es genügend neues Land zu besetzen gibt.

Wenn sie irgendwann aus ihrer Umgebung alle Schwachen vertrieben haben, kommen sich die aggressiven Vögel gegenseitig in die Quere und vermindern so ihre Fortpflanzungs- und Überlebenschancen.

Einzigartigkeit zahlt sich auch dann aus, wenn es um die Bereitschaft geht, Neues zu wagen. "Da gibt es bei Tieren ebenso große Unterschiede wie bei Menschen", sagt Weissing.

Bei Enten zum Beispiel lässt sich die Offenheit gegenüber Neuem einfach testen. Dazu fütterten Wissenschaftler die Vögel an der Nord- und an der Südseite eines Teiches. Im Norden verteilten sie doppelt so viel Brot wie im Süden, daher fanden sich an der Nordseite etwa doppelt so viele Enten ein wie am gegenüberliegenden Ufer.

Dann warfen die Forscher plötzlich im Süden mehr Brot ins Wasser, während es im Norden weniger gab. Einige wenige Enten schwammen daraufhin vom Nord- ans Südufer - schon war das Verhältnis von Brot und Tieren an beiden Uferseiten wieder ausgeglichen.

Die Forscher wiederholten den Versuch mehrere Jahre hintereinander am selben Teich. Jedes Mal wechselten dieselben "aufgeschlossenen" Enten als erste die Seiten.

"Damit die Gruppe insgesamt möglichst viel Futter bekommt, müssen jeweils nur wenige Mitglieder ihr Verhalten ändern", sagt Weissing. "Das ist sinnvoll, denn so spart sich der Großteil der Gruppe die Energie für das Hin- und Herschwimmen."

Deutliche Persönlichkeitsunterschiede zeigen auch Mäuse. Jaap Koolhaas von der Universität Groningen unterscheidet zwei Typen: Ein Teil der Nager ist zögerlich und schüchtern. Der andere Teil tritt forsch und mutig auf, aber auch aggressiv.

Ein einfacher Test zeigt, zu welcher Gruppe ein Tier gehört. Koolhaas' Mäuse wissen genau, wie sie ein Labyrinth durchqueren müssen, um zum Ausgang zu gelangen. Doch wenn der Forscher eine dünne Plastikplane auf den Boden des Labyrinths legt, zeigt sich der Mäuse Kern:

Die mutigen Tiere ignorieren den neuen Bodenbelag, unerschrocken wie zuvor flitzen sie los. "Diese Mäuse achten nicht auf die Signale in ihrer Umgebung, sondern vertrauen allein ihrer Erfahrung", sagt Koolhaas.

Schließlich bleibt der Weg durchs Labyrinth immer derselbe. "Warum sollen sich die Tiere mit Details abgeben? Das würde nur Zeit und Energie kosten", erklärt Koolhaas.

Tiere, die sich getreu dieser Devise verhalten, nennt der Forscher proaktiv. Bei einem Menschen würde man sagen: Er handelt, bevor er denkt. Eine derart schnelle Reaktion hat Vorteile, etwa wenn eine Katze zum Tatzenhieb ansetzt.

Die schüchternen Tiere hingegen - Koolhaas nennt sie reaktiv - zögerten lange, ehe sie auf dem neuen Bodenbelag die ersten Trippelschritte wagen. "Mäuse diese Typs folgen dem Leitsatz:

"Erst einmal abwarten", sagt der Forscher. Solche Tiere reagieren zwar langsamer, dafür können sie sich besser auf eine veränderte Umwelt einstellen.

"In der Natur profitiert eine Gruppe davon, wenn es in ihr sowohl proaktive als auch reaktive Typen gibt", sagt Koolhaas. Zunächst sind die mutigen Tiere im Vorteil: Sie erkunden als erste die besten Nahrungsquellen und verscheuchen Fortpflanzungs-Rivalen.

Bald überwiegt der Anteil der aggressiven Tiere - bis so viel Zank herrscht, dass sich die Tiere gegenseitig zerfleischen oder ein Teil der Gruppe in ein neues Gebiet auswandern muss.

Dann kommen die vorsichtigen, reaktiven Tiere zum Zug: In der neuen Umgebung erweist sich ihr Zögern als kluges Sondieren, während die Unerschrockenen voranstürmen und dabei vielleicht in eine Felsenspalte stürzen, die es im alten Revier nicht gab.

"Die aggressiven, mutigen Tiere leben für den Moment", sagt Weissing. Daher müssten sie sich, so prognostiziert es sein Computermodell, früh fortpflanzen, ehe ihre Risikofreude sie das Leben kostet.

Die zögerlichen Tiere hingegen kommen zwar nicht zum Zuge, solange die aggressiven ihnen die Fortpflanzungspartner wegschnappen. Dafür leben die vorsichtigen Individuen meist länger und pflanzen sich noch fort, wenn sich die forschen Exemplare bereits tödlich verletzt haben. Lebe schnell, stirb jung - das gilt offenbar auch für manche Tiere.

© SZ vom 20.05.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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