Verhaltensbiologie:Der Lohn der Verlierer

Eine Umarmung für den Niedergeschlagenen, ein aufmunterndes Schnabelreiben oder eine Runde Sex zur Aufheiterung: Erstaunlich viele Tiere spenden einander Trost.

Katharina Kramer

Betritt der Kognitionsbiologe Thomas Bugnyar von der Universität Wien die Raben-Voliere im Wildpark Grünau bei Salzburg, wartet er nur auf eins: dass die Federn fliegen und die Vögel miteinander kämpfen.

Berberaffen im Tierpark Aschersleben

Gefährten trösten im Tierreich eher als nahe Verwandte.

(Foto: dpa/dpaweb)

Wie an jenem Februartag 2006, als die Rabendame Colombo krächzend hinter der Artgenossin Xara herflog, auf sie los sprang und sie mit dem Schnabel piesackte. Gerupft und verschreckt zog sich die Verliererin des Duells in eine dunkle Ecke zurück.

Jetzt kam für Bugnyar der entscheidende Moment: Wie würden die anderen Raben reagieren? Würden sie Xara sitzen lassen oder Mitgefühl zeigen? Schon nach wenigen Minuten geschah es: Thea - Xaras beste Gefährtin, die oft mit ihr zusammensaß und Futter teilte - flog herbei. Behutsam näherte sie sich und kraulte mit dem Schnabel Xaras Nacken. Die Liebkoste legte den Kopf nach hinten, schloss die Augen und genoss.

Zwei Jahre lang beobachtete Bugnyar, wie Raben nach einem Kampf mit dem Besiegten umgehen. Kürzlich veröffentlichte er seine Ergebnisse im Wissenschaftsmagazin PlosOne. Dort berichtete er, dass sich dritte, am Streit unbeteiligte Tiere, um die Unterlegenen kümmerten.

Das Phänomen tröstender Tiere hat in den vergangenen Jahren immer mehr Forscher in Bann gezogen. Sie wollen wissen: Welche Spezies zeigen dieses Verhalten und welchen Zwecken dient es? Ist tatsächlich Mitgefühl im Spiel und was verraten tröstende Tiere über die Evolution der Empathie beim Menschen?

Auch Wölfe und Hunde spenden Trost

Bisher haben Wissenschaftler das rührend anmutende Verhalten vor allem bei den kognitiven Überfliegern des Tierreichs ausgemacht: bei Rabenvögeln und Primaten - genauer gesagt außer bei Raben noch bei Saatkrähen, Schimpansen, Bonobos und Gorillas.Überraschend für die Forscher war, dass auch Wölfe, Hunde und Bärenmakaken Trost spenden, obwohl sie nicht für außerordentliche Intelligenz bekannt sind.

Wie Raben leisten auch die anderen Spezies auf zärtliche Weise Beistand: Affen umarmen den Verlierer, küssen und lausen ihn; Bonobos heitern ihre Artgenossen gern mit einer Runde Sex auf. Saatkrähen reiben ihren Schnabel an dem des Verlierers: "Es sieht aus wie Küssen", berichtet die Psychologin Amanda Seed von der Universität Cambridge nach Beobachtungen in einer Saatkrähen-Kolonie. Wölfe und Hunde legen sich neben den Verlierer, lecken und beschnuppern ihn, animieren zum gemeinsamen Spiel.

"Dass unterschiedliche Tiere ein derart ähnliches Konfliktlösungsmuster zeigen, ist erstaunlich und faszinierend", sagt Elisabetta Palagi vom Naturgeschichtlichen Museum Pisa, die fast zwei Jahre lang ein neunköpfiges Wolfsrudel beobachtete. Unter Forschern besteht kein Zweifel: Trösten ist alles andere als banal. Es gilt als hohe Form der Empathie.

Die Tiere müssen zunächst die Emotionen des Verlierers - seine Niedergeschlagenheit - überhaupt spüren. Daraufhin müssen sie willens und fähig sein, diese Niedergeschlagenheit zu lindern. Dazu braucht es Intelligenz, um sich selbst als eigenständiges Wesen zu begreifen und den anderen als ein vom eigenen Selbst getrenntes Wesen zu erkennen; und schließlich das Talent zum Perspektivwechsel, um sich in den anderen hineinzuversetzen.

Diese Qualitäten überprüfen Forscher gemeinhin mit dem Spiegeltest: Erkennen die Tiere ihr eigenes Konterfei, kann als gesichert gelten, dass sie über die notwendige Selbst- und Fremderkenntnis verfügen. Primaten und Rabenvögel bestehen den Spiegeltest spielend. Anders Makaken und Hundeartige. Auf welche kognitiven Fähigkeiten sich Wölfe, Hunde und Bärenmakaken bei ihrer Hinwendung zum Verlierer stützen, so Palagi, "müssen wir erst noch herausfinden".

Trösten beschwichtigt den Verlierer

Doch eins ist allen animalischen Trostspendern gemeinsam: Sie leben in sozial sehr komplexen Gruppen. "Für Gruppentiere", so Bugnyar, "ist es überlebenswichtig, dass alle Mitglieder miteinander auskommen." Ein unbesänftigter Verlierer kann nämlich gefährlich werden und sich etwa bei der nächstbesten Gelegenheit auf den Gewinner stürzen oder das Futter nicht mehr mit ihm teilen.

Trösten beschwichtigt den Verlierer und stellt die überlebenswichtige Gruppenharmonie wieder her. Dadurch kommt es zu weniger Kämpfen in der Gruppe, wodurch ihre Mitglieder sich seltener verletzen und weniger Energie verlieren. Und genau aus diesen Gründen dürfte es sich im Verlauf der Evolution durchgesetzt haben: Mitglieder von Gruppen, in denen getröstet wurde, hatten eine größere Chance, ihre Gene weiterzugeben.

Doch wer spendet den so wichtigen Trost? Ein Verwandter? Ein Leittier? Oder der beste Freund? Erstaunlicherweise spielt Verwandtschaft selten eine Rolle. Am häufigsten tröstet der beste Gefährte des Verlierers. Derjenige, mit dem sie am meisten Zeit verbringen, oft das Futter teilen und am häufigsten gegenseitige Körperpflege betreiben.

So greift bei den monogam lebenden Saatkrähen stets der Lebenspartner besänftigend ein. Und bei den promiskuösen Bonobos meist der Partner, der am häufigsten zur gegenseitigen Körperpflege ausgewählt wird. Insofern lässt sich auf das Trostverhalten die "Freundschafts-Hypothese" anwenden: Je besser die Bindung, desto höher die Trost-Wahrscheinlichkeit.

Daraus folgern die meisten Forscher, dass die Tiere nicht etwa deshalb Beistand leisten, weil sie sich selbst schützen wollen. Immerhin könnte es ja sein, dass sie den Unterlegenen nur beruhigen, damit der seine aufgestauten Aggressionen nicht an ihnen auslässt.

Tiere, die getröstet werden, sind weniger gestresst

Tatsächlich kommt ein solches Besänftigen des Verlierers des öfteren vor, beispielsweise in Schimpansengruppen, in denen der Haussegen schief hängt und Mitglieder zur Aggression neigen. In einer solchen Umgebung wird der Verlierer häufig von jenen aufgemuntert, die er sonst mit Vorliebe vermöbelt. Doch in den meisten Fällen scheint hinter dem tierischen Trost echtes Mitgefühl zu stehen, das aus einer engen Bindung erwächst.

Wie wirkungsvoll dieser Beistand tatsächlich ist, fragte sich die britische Anthropologin Orlaith Fraser. "Trost erfüllt ja vor allem den Zweck, dass der Getröstete hinterher weniger aggressiv und gestresst ist und zum Alltag übergehen kann."

Im Schimpansen-Gehege des nordenglischen Chester-Zoos prüfte sie, ob jene Tiere, die Zuwendung erhalten, auch weniger Stress-Symptome zeigen. Tatsächlich lausten und kratzten sich Unterlegene, die eine Schulter zum Anlehnen hatten, selbst deutlich seltener als jene, die ihre Niederlage allein verkraften mussten.

Im Lichte dieser Forschungsergebnisse wird klar, wie tiefe Wurzeln das Mitgefühl des Menschen hat. Schon der gemeinsame Vorfahr von Schimpanse und Mensch vor fünf Millionen Jahren konnte wahrscheinlich den Kummer seiner Artgenossen erspüren und lindernd eingreifen.

Auf dieser Basis brachte der Mensch es nach und nach zum unangefochtenen Meister-Tröster. Während Tiere nur ihre besten Gefährten aufrichten, stehen Menschen gelegentlich auch Wildfremden zur Seite.

"Das ist eine ganz neue Qualität des Mitgefühls", sagt Psychologin Amanda Seed. "Und evolutionär betrachtet ist es ein enormer Schritt nach vorn."

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