Unterfranken:Schuss auf Elfjährige ist "kein Anhaltspunkt für eine psychische Erkrankung"

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Trauer um das Opfer: Ein elfjähriges Mädchen wurde von einem Mann erschossen. (Foto: Nicolas Armer/dpa)

An Silvester erschießt ein Mann ein elfjähriges Mädchen. Angeblich aus Frust. Kann das stimmen? Fragen an den forensischen Psychiater Jürgen Müller von der Universität Göttingen.

Von Felix Hütten

In der Neujahrsnacht feiern Menschen friedlich in einem kleinen Ort in Unterfranken. Plötzlich fällt ein Schuss, ein elfjähriges Mädchen wird am Kopf getroffen, später stirbt sie im Krankenhaus. Später stellt sich heraus: Der Schütze ist ein 53-jähriger Nachbar, der aus Frust und Ärger abgedrückt haben soll. Wie kann so etwas passieren? Fragen an den forensischen Psychiater Jürgen Müller. Er ist Gutachter in Strafprozessen und forscht als Professor an der Georg-August-Universität Göttingen und an der Asklepios Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie zu forensisch relevantem Verhalten.

SZ: Herr Müller, wie erklären Sie sich diese Tat?

Aus den Medien ist zu entnehmen, dass der Mann schlief und dann von der feierenden Gruppe geweckt wurde. Er könnte eine große Wut auf diese Gruppe entwickelt haben, weil der das Gefühl hatte, von der Feier ausgeschlossen zu sein. Das erklärt diese Tat natürlich nicht hinreichend. Die Staatsanwaltschaft hat mitgeteilt, dass die Familie des Mannes zerbrochen ist. Er soll wütend auf seine Lebenssituation gewesen sein. Wahrscheinlich hat er Kränkung und Ärger aufgestaut und konnte diese aggressiven Impulse schlecht bewältigen.

Wut und Ausgrenzung kann man aussprechen. Dazu muss man nicht zur Waffe greifen.

Hier beobachten wir ein Phänomen, das man von anderen Tätern kennt: Jemand schießt aus einer sicheren Position heraus auf Menschen, die schutzlos sind. Die Täter fühlen in diesem Moment eine deutliche Überlegenheit, sie verspüren große Macht. Diese üben sie dann aus, ohne von dieser Gruppe bedroht zu sein.

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Aus Wut über den Silvesterlärm und seine persönliche Situation habe er in die feiernde Menge auf der Straße gezielt. Jetzt wird wegen Mordes gegen den Mann ermittelt.

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Der Verdächtige soll ausgesagt haben, dass er niemanden töten wollte. Ist das glaubhaft?

Das ist durchaus möglich. Viele Täter erleben das Ziel ihrer Tat nicht als individuelle Personen, eher als Fläche, auf die sie ihre Aggressionen projizieren. Wahrscheinlich hat der Mann die Silvestergruppe im Moment des Abdrückens gar nicht als Ansammlung von Einzelpersonen wahrgenommen. Ähnlich wie bei anderen Tätern hat er womöglich auf eine für ihn anonymisierte, entpersönlichte Menge geschossen. Der Schuss ist übrigens kein Anhaltspunkt für eine psychische Erkrankung. Wenn von einem "Wahnsinnigen" oder "Monster" die Rede ist, so charakterisiert dies die unverständliche Tat. Es ist aber falsch. Wir wissen aus verschiedenen Experimenten, dass Anonymisierung und Entindividualisierung die Hemmschwelle für eine Gewalttat bei Menschen senken können.

Der Verdächtige hat sich nicht gestellt. Als die Polizei ihn gefunden hat, soll er erleichtert gewesen sein. Wie kann das sein?

Der Mann hat möglicherweise seine Tat zunächst nicht realisiert. Wir beobachten bei vielen Tätern eine Phase, in der die Tat verdrängt oder bagatellisiert wird. Oft gestehen Menschen sich ihre Schuld erst Tage oder Wochen später ein - wenn überhaupt. Aus ähnlichen Fällen wissen wir, dass bei Tätern ein Konflikt entsteht: Einerseits wollen sie sich stellen, weil sie ihre Tat bereuen. Andererseits haben sie Angst vor einer Strafe, vor allem aber vor dem Bruch mit der Gesellschaft, mit Freunden und Nachbarn. Auf den Tätern lastet ein immenser Druck. Die Festnahme wird dann - manchmal auch noch nach Jahren - als Entlastung erlebt.

Ist das immer so?

Meine Ausführungen sind allgemein, sie können keinen konkreten Bezug auf individuelle Täter haben. Wir kennen diesen Mann bislang nicht, daher kann ich nur über die Tat sprechen. Man muss auf die Untersuchung und das Gutachten warten.

Was genau passiert bei einer psychiatrische Begutachtung in solchen Fällen?

Es wird der Lebensweg des Betroffenen aufgezeigt, problematische Lebenssituationen und Verhaltensweisen werden analysiert. Zudem werden konkrete Lebensumstände zum Zeitpunkt der Tat beleuchtet, der Tatablauf wird analysiert. Es geht um die Fragen, inwiefern der Täter aufgrund einer möglichen psychischen Störung schuldfähig ist. Gibt es ein Wiederholungsrisiko? Muss der Täter in einer forensischen Psychiatrie behandelt werden?

Wie ließe sich eine solche Tat verhindern?

Menschen nehmen Wut, Isolation und Einsamkeit wahr, das kennt jeder. Manche Menschen haben allerdings Probleme, mit diesen Gefühlen richtig umzugehen. Der entscheidende Schritt ist, sich Hilfe zu suchen, statt sich zurückzuziehen. Da reicht oftmals schon ein Gesprächspartner, ein Freund oder jemand aus der Familie. Und wenn nicht, sollte man sich einem Psychologen oder Psychiater vorstellen.

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