Physik:Das Blitzdings im Untergrund

Arbeiten an den Modulverbindungen im European XFEL-Linearbeschleuniger Connecting modules in the European XFEL linear accelerator

Ein Techniker verbindet die Leitungen für flüssiges Helium zwischen zwei Beschleunigermodulen im XFEL-Tunnel.

(Foto: Heiner Müller-Elsner)

Unter der Erde zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein nimmt der weltweit stärkste Röntgenlaser XFEL seine Arbeit auf. Das teuerste Experiment Deutschlands soll Physikern völlig neue Einblicke ermöglichen.

Von Alexander Stirn, Schenefeld

Wer die Welt in ihrem Innersten verstehen will, muss in großen Maßstäben denken. In 3,4 Kilometer großen Maßstäben, um genau zu sein. Und er muss bereit sein, Grenzen zu überwinden - und sei es nur die Landesgrenze zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein.

Dort, im Gewerbegebiet des Örtchens Schenefeld, zwischen Maisfeldern und Autolackierereien, erhält derzeit eine Versuchsanlage ihren letzten Schliff, die bereits vor dem Start mit Superlativen überschüttet wird. Sie gilt als derzeit teuerstes Experiment auf deutschem Boden. Als weltweit hellste Röntgenquelle. Als größter supraleitender Linearbeschleuniger auf dem Globus.

European XFEL heißt das Projekt in der sperrigen Sprache seiner Betreiber: europäischer Röntgen-(englisch: X-ray)-Freier-Elektronen-Laser. Geschäftsführer Robert Feidenhans'l formuliert es pompös: "European XFEL ist die Krönung von 35 Jahren Röntgenstrahlungs- und Beschleunigerphysik."

Die Erwartungen sind immens. Wenn die Anlage, die weitgehend im norddeutschen Erdreich vergraben ist, am 1. September offiziell in Betrieb geht, wird sie Sekunde für Sekunde 27 000 extrem intensive Röntgenblitze erzeugen. Die Strahlung ist so hell, so flink und so kurz, dass Wissenschaftler sie wie ein monströses Mikroskop benutzen wollen. Sie sehen einzelne Moleküle, sie können - wie mit einer Stroboskopkamera - den Ablauf chemischer Reaktionen filmen. Zumindest sind das die großen Versprechen des European XFEL.

Die Reise des Röntgenlichts, das in Schleswig-Holstein Materieproben beleuchten soll, beginnt 3,4 Kilometer entfernt im Nordosten Hamburgs. Unweit der Trabrennbahn Bahrenfeld, auf dem stadtteilgroßen Campus des Deutschen Elektronensynchrotrons Desy, hämmert zunächst ein ultravioletter Laser auf einen Metallblock aus Cäsiumtellurid. Milliarden negativ geladener Elektronen werden dabei herausgeschlagen. Ein Beschleunigerrohr saugt diese paketweise ab und bringt sie innerhalb weniger Millimeter auf 99,48 Prozent der Lichtgeschwindigkeit.

Die Elektronen erreichen 99,9999999 Prozent der Lichtgeschwindigkeit

Das reicht den XFEL-Physikern allerdings nicht. Sie laden ihre Elektronen mit noch mehr Energie auf. In einem Betontunnel, 35 Meter unter Bahrenfeld, erstreckt sich daher ein knapp zwei Kilometer langes, dottergelbes Strahlrohr - eine Hightech-Pipeline für Elektronen. In ihrem Innern verbergen sich sogenannte Resonatoren. Die Bauteile sehen aus wie große Donuts, die jemand auf eine Stange gesteckt hat. Sie bestehen aus dem Schwermetall Niob und werden mit flüssigem Helium auf eine Temperatur von minus 271 Grad Celsius gekühlt, nur zwei Grad über dem absoluten Nullpunkt. Das Kältebad ist nötig, damit Niob seinen elektrischen Widerstand verliert. Es wird, wie die Physiker sagen, supraleitend. Von außen angelegte Mikrowellen übertragen dann ohne Verluste ihre Energie auf die Elektronen.

Hundert Beschleunigerröhren, eine jede zwölf Meter lang, sollten ursprünglich im schnurgeraden XFEL-Tunnel verbaut werden. Zwei Module fielen bei den Funktionstests in Bahrenfeld allerdings durch. Da die Röhren nur im Viererpack montiert werden können, sind es nun 96 Elemente geworden. Zwei weitere Quartette wurden zudem beschädigt, als vergangenen Oktober bei Drucktests eine Heliumleitung von der Tunneldecke stürzte. Noch ist ihre Reparatur nicht abgeschlossen.

Auf den großen Monitoren des Kontrollraums, wo der Elektronenstrahl im Detail verfolgt werden kann, leuchten die fehlerhaften Röhren gelb und rot. "Zum Glück sind unsere Beschleunigermodule so gut geworden, dass wir die geplante Leistung auch mit weniger Elementen erreichen können", sagt Desy-Physiker Winfried Decking, der die Inbetriebnahme der Anlage leitet. Am Ende des Tunnels erreichen die Elektronen somit 99,9999999 Prozent der Lichtgeschwindigkeit.

Mehr als 1,2 Milliarden Euro kosteten Tunnel und Technik bereits

Bevor sie Röntgenlicht erzeugen, müssen die Elektronen im Tunnel aber noch Achterbahn fahren. Mehr als 17 000 Permanentmagneten, deren Nord- und Südpole abwechselnd angeordnet sind, zwingen die geladenen Teilchen auf einen engen, 210 Meter langen Slalomkurs. Wie ein Skifahrer, der bei jedem Schwung etwas Schnee aufspritzen lässt, geben die Elektronen bei jeder Richtungsänderung unweigerlich Röntgenstrahlung ab. Teilchen und Strahlen verstärken sich dabei gegenseitig. Am Ende, in Schenefeld, wird der Beschleuniger 27 000 extrem helle Röntgenblitze pro Sekunde ausstoßen - Röntgenlicht mit einer Wellenlänge von weniger als einem Zehnmillionstel Millimeter - dem Abstand zweier Atome in einem Molekül.

Die Elektronen haben nun ihre Schuldigkeit getan. "Für die haben wir keine Verwendung mehr", sagt Feidenhans'l. Sie werden umgelenkt und landen in einem sechs Meter langen, mit Beton ummantelten Grafitblock. Die Röntgenblitze hingegen rasen weiter. Keine Hunderttausendstel Sekunde später überqueren sie, verborgen in einer unscheinbaren, faustdicken Edelstahlröhre, die Grenze zu Schleswig-Holstein. Dort versperrt eine gelbe Drahtgittertür, gefolgt von einem Labyrinth aus Betonwänden, den Zugang zum Tunnelende. Dahinter sind Röhren, Kabel und glitzernder Edelstahl so weit das Auge reicht. Fahrräder sind für die Techniker und Physiker hier das bevorzugte Fortbewegungsmittel.

Die Blitze sind so stark und schnell, dass sie die Moleküle ablichten bevor sie explodieren

Etwa acht Jahre hat die Konstruktion von Tunnel und Technik gedauert. Exakt 673 Millionen Euro sollte das Projekt einst kosten, als 2003 die ersten Pläne diskutiert wurden. Beim Baustart waren es bereits eine knappe Milliarde Euro. Nun sind es, nach offiziellen Angaben, 1,22 Milliarden geworden, von denen Deutschland 58 Prozent bezahlt. Berücksichtigt man die Inflation beläuft sich die Summe eher auf 1,4 Milliarden Euro - gut ein Drittel der Baukosten des Large Hadron Colliders (LHC), des 27 Kilometer langen Ringbeschleunigers am Genfer Forschungszentrum Cern.

Während der LHC, in dem vor allem Protonen auf immense Energien gebracht werden, primär der Grundlagenforschung dient, betonen die XFEL-Forscher die Anwendungsnähe ihrer Mammutmaschine. Der Röntgenlaser soll Biologen helfen, die atomaren Vorgänge in Zellen und Proteinen zu verstehen, die unter anderem für Krankheiten wie Diabetes und Alzheimer verantwortlich gemacht werden. Er soll Einblicke in chemische Katalysen liefern. Er soll die physikalischen Vorgänge in Solarzellen offenlegen.

Große Versprechen, die auf den beiden großen Stärken des XFEL aufbauen: Helligkeit und Geschwindigkeit. Mit bisherigen Röntgenquellen mussten Forscher ihre Proben lange belichten, um ein ausreichend helles Bild zu erhalten. Die Moleküle erhitzten sich und wurden zerrissen, bevor eine scharfe Aufnahme zustande kam. Die hellen Röntgenblitze in Schenefeld sind hingegen so stark und so kurz, dass sie bereits mit einem Schuss eine brauchbare Aufnahme liefern können - noch bevor die Probe unweigerlich vernichtet wird.

Mit mehreren Tausend ultrakurzen Blitzen pro Sekunde, die im Abstand von 220 milliardstel Sekunden aufeinander folgen, soll es zudem möglich werden, den genauen Ablauf einer chemischen Reaktion Schritt für Schritt festzuhalten. Die einzelnen Bilder können anschließend zu einem Film aus der Quantenwelt zusammengeschnitten werden. "Molekülkino", nennt Geschäftsführer Feidenhans'l das Vorhaben.

In Schenefeld, unweit der Maisfelder, werden derzeit die ersten beiden Experimentierplätze startklar gemacht. "Hütten" heißen sie im Forscherjargon. Mit ihren massiven Betonwänden, in die zwei Zentimeter dicke, mit Stahl überzogene Bleiplatten eingebettet sind, erinnern sie eher an Bunker. Vier weitere Plätze sollen Mitte nächsten Jahres hinzukommen. In der großen Experimentierhalle, in der sich Kartons und Paletten stapeln, wäre sogar Platz für noch mehr Betonhütten - vorausgesetzt, in Zukunft ist ausreichend Geld und ausreichend Nachfrage für die intensive Röntgenstrahlung aus Hamburg und Schleswig-Holstein vorhanden.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: