Paläoanthropologie:Im Gesicht fing es an

Lesezeit: 2 min

Schädel Nr. 17 aus einer Höhle in der Sierra de Atapuerca in Spanien. Wissenschaftler haben ein wiederkehrendes Muster festgestellt: Zähne und Gesicht entsprechen in ihren Merkmalen bereits der Morphologie des Neandertalers, während etwa die Hirnschale noch wenig entwickelt ist. (Foto: dpa)

Anthropologen haben in einer Höhle im Norden Spaniens menschliche Knochen gefunden, die dort 430 000 Jahre lagerten. Als die Forscher die Teile zusammenfügten, erkannten sie: Die Schädel ähneln frühen Neandertalern. Vor allem die Kiefer erzählen ein weiteres Kapitel der menschlichen Evolution.

Von Hubert Filser

Die meisten Knochen lagen in einer verborgenen Kammer. 500 Meter entfernt vom nächstgelegenen Eingang der Höhle in der Sierra de Atapuerca im Norden Spaniens fanden Anthropologen die Überreste von insgesamt 28 Frühmenschen, darunter 17 teilweise sehr gut erhaltene Schädel. Den Fundort nannten die Forscher Sima de los Huesos - zu deutsch: Knochengrube. "Es fühlt sich an, als hätten wir einen Schatz gefunden", sagt der spanische Paläoanthropologe Juan Luis Arsuaga von der Universitad Complutense in Madrid. "Sima de los Huesos ist einzigartig, dort findet sich eine beispiellose Ansammlung menschlicher Fossilien."

Die Schädel und Skelettteile hatten in rötlich-brauner Erde 430 000 Jahre überdauert, geschützt vom feuchten Boden und den kühlen Temperaturen von rund zehn Grad Celsius. Sie lagen in zwölf Erdschichten; ob es gezielte Begräbnisse waren oder Wasserströmungen die Skelette zusammengetragen haben, ist unklar.

Als die Forscher die Schädel jetzt auf charakteristische Merkmale untersuchten, ergab sich ein überraschendes Bild. Die Knochen zeigen Merkmale sowohl von Neandertalern als auch von primitiveren Frühmenschen, standen also an einem Übergang. Arsuaga spricht von einem "Mosaik-Muster" ( Science, Bd. 344, S. 1358, 2014). Klare Neandertaler-Kennzeichen fanden die Anthropologen im Gesicht und bei den Zähnen. Das Gehirnvolumen lag mit durchschnittlichen 1232 Kubikzentimetern über dem der Vorgänger-Spezies Homo erectus, war aber kleiner als beim Homo sapiens oder späteren Neandertalern. Die restliche Anatomie entspricht der primitiver Frühmenschen.

Der Kiefer - die "dritte Hand"

Es scheint so, als hätten die veränderten Schädelmerkmale vor allem mit den Kiefern zu tun. Hier sind die deutlichsten Anpassungen zu beobachten. Vor allem die Schneidezähne fallen auf. Sie seien wohl nicht nur zum Kauen sehr intensiv genutzt worden, sagt Arsuaga, fast wie eine "dritte Hand". Dies zeigten die starken Abnutzungserscheinungen, sie seien typisch für spätere Neandertaler. Arsuaga glaubt deshalb, dass Veränderungen im Gesicht die erste Stufe in der Evolution der Neandertaler darstellen. Es habe ihn zudem sehr erstaunt, dass die Schädel der 17 Individuen aus der "Knochengrube" untereinander sehr ähnlich sind - und sich gleichzeitig von fossilen Schädeln aus dem mittleren Pleistozän (vor 780 000 bis 126 000 Jahren) in anderen Regionen Europas unterscheiden. "Das bedeutet, dass es eine große Diversität zwischen den verschiedenen Populationen gab." Dies sei ein Hinweis auf mehrere evolutionäre Entwicklungslinien nebeneinander.

Womöglich haben die europäischen Neandertaler ihre charakteristischen Eigenschaften unabhängig voneinander entwickelt, in verschiedenen Stufen und zu unterschiedlichen Zeiten, nimmt das Team der Paläoanthropologen an. Die Homininen aus der Sima de los Huesos sind dabei die ältesten, die Neandertaler-Merkmale zeigen. Sie waren damit einerseits Teil der Neandertaler-Familie, müssen aber nicht unbedingt direkte Vorfahren mitteleuropäischer Neandertaler gewesen sein. Das sich ständige verändernde Klima in Europa bedrohte die verschiedenen Gruppen - und führte immer wieder zum Aussterben einzelner Gemeinschaften.

Im Pleistozän bedeckten immer wieder große Eisschilde den europäischen Kontinent. Die Populationen in Europa und Asien entwickelten sich darum unabhängig von denen in Afrika. Die Homininen der Knochengrube waren eine kleine Gruppe und lebten eher isoliert - die Basis für evolutionär schnelle Veränderungen.

Die archäologischen Funde aus der Knochengrube bestätigen nun auch Erkenntnisse, die Genetiker jüngst veröffentlicht haben. Matthias Meyer vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig konnte DNA aus dem Oberschenkelknochen eines Homininen der spanischen Höhle untersuchen. Es war die älteste Erbsubstanz eines Frühmenschen, die jemals analysiert wurde. Meyer verglich die sogenannte mitochondriale DNA, die außerhalb des Zellkerns vorkommt, mit der heutiger Menschen, von Schimpansen, Neandertalern aus Deutschland und Kroatien sowie von Denisova-Menschen aus Sibirien. Das Ergebnis verblüffte: Die Sima-Homininen hatten gemeinsame Vorfahren mit den Denisova-Menschen - aber nicht mit Neandertalern.

© SZ vom 20.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: