30 Jahre Tschernobyl:Aufräumen in der Hölle von Tschernobyl

30 Jahre nach der Katastrophe schlummern in Reaktor 4 noch immer enorme Mengen radioaktiven Materials - und 3000 Arbeiter kommen täglich auf das Gelände.

Von Patrick Illinger

Eine einsame Ruine inmitten einer verstrahlten Sperrzone. Ein paar Milizen zur Bewachung. Nebenan die längst von Birken überwucherte, seinerzeit eilig geräumte Arbeiterstadt Pripjat, wo zwischen Plattenbauten noch die Überreste eines Rummelplatzes vor sich hinrosten. So stellen sich wohl die meisten Menschen heute das Gelände des einstigen Wladimir-Iljitsch-Lenin-Kraftwerks in der Nähe von Tschernobyl vor. Als triste, verlassene, fast schon archäologische Stätte mit dem millionenfach abgebildeten, zubetonierten Reaktorblock 4 in der Mitte.

Tatsächlich tut man sich als Besucher schwer, den Reaktorblock 4 überhaupt zu finden. Er ist nur ein vergleichsweise unauffälliger Gebäudeteil auf einem riesigen Areal mit Dutzenden Fabrikhallen und Verwaltungshäusern, das durchzogen ist von einem Geflecht aus rissigen Straßen, zugewachsenen Gleisen, einem breiten Kühlwasserkanal, Dutzenden Kränen und rostigen Hochspannungsanlagen. Dominanter als der Unglücksreaktor von 1986 wirken die Kühltürme der Reaktorblöcke 5 und 6, die zum Zeitpunkt des Unglücks kurz vor der Fertigstellung standen. Oder die Hauptverwaltung, an deren Fassade ein prominentes Beispiel sowjetischer Kunst am Bau prangt.

Riesige Mengen angeblich schwach radioaktiver Abfälle wurden in Gruben versenkt

Mehr noch als die Größe der Anlage lässt einen die Geschäftigkeit staunen. Es ist mitnichten so, dass hier nur ein paar Wachleute Dienst tun. Etwa 3000 Arbeiter kommen, 30 Jahre nach der Katastrophe, täglich auf das Gelände, die meisten mit der Bahn aus dem 50 Kilometer östlich gelegenen Ort Slawutytsch, um die Überreste sowjetischer Kernkraftträume abzuwickeln. Es gibt hier ein Auditorium, sogar eine Kantine, in der man an Resopaltischen Hühnchen mit Eihülle serviert bekommt. Gemessen an all dem, was auf dem Kraftwerksgelände zu tun ist, wirkt der am 26. April 1986 explodierte Reaktorblock 4 fast unscheinbar. Wie nur eines von vielen Problemen.

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SZ-Karte; Quelle: Vereinte Nationen/UNSCEAR

Tatsächlich stellen die Überbleibsel des ganz normalen Reaktorbetriebs eine ungeheuerliche Herausforderung dar. Was oft vergessen wird: Bereits wenige Monate nach dem Unglück wurden die Reaktorblöcke 1, 2 und 3 wieder angefahren. Sie versorgten noch jahrelang zunächst die Sowjetunion und später die Ukraine mit Strom. Block 3 war bis Dezember 2000 in Betrieb, ausgerechnet jener Reaktor, der wie eine Doppelhaushälfte am Betonsarkophag der Ruine von Block 4 klebt.

Abfallprodukte der 1978 angelaufenen Stromproduktion sind bis heute auf dem gesamten Kraftwerksgelände zu finden. Fässer und Tanks mit oft undefinierbaren Flüssigkeiten. Manches ungefährlich, manches radioaktiv, fast alles ohne brauchbare Dokumentation. Hunderttausende Kubikmeter angeblich schwach radioaktive Abfälle wurden auf einem 90 Hektar großen Gelände 13 Kilometer vom Kraftwerk entfernt in Gruben gefüllt und zugeschüttet. Rund 21 000 Brennelemente aus den Blöcken 1 bis 3 rosten seit Jahren in einem sogenannten Nasslager vor sich hin, in Wasser, das die Brennelemente abkühlen und abschirmen sollte. Viele dieser mit Uran gefüllten Stäbe sind korrodiert und aufgeplatzt. Um die nukleare Sauerei zu beseitigen, wurde mit europäischer Hilfe auf dem Gelände eigens eine Fabrik gebaut, in der die alten Brennstäbe getrocknet und in Fässer umgepackt werden sollen, damit sie in ein Zwischenlager passen. Französische Spezialisten versuchten jahrelang, die feuchten Brennstäbe zu verarbeiten - und scheiterten. Mittlerweile sind amerikanische Ingenieure am Werk.

In Standardfässer gestopft soll der Müll in ein Zwischenlager kommen, die Interim Storage Facility ISF-2, welche bereits in die Landschaft gebaut ist: zwei mehr als hundert Meter lange Betonriegel, die aussehen wie die Molen eines Frachthafens, wären da nicht die riesigen Löcher für die Fässer. Darin sollen die getrockneten Brennelemente 100 Jahre lang lagern. Eine üble Hinterlassenschaft für die Generation der Urenkel.

Ein paar Hundert Meter weiter, in einer Halle aus Sichtbeton, sind Arbeiter mit weißen Baumwollhauben damit beschäftigt, Stahlfässer mit den merkwürdigen Flüssigkeiten zu analysieren, um die radioaktiven Stoffe auszufiltern. Wie viel von dem Zeug es noch auf dem Gelände gebe? 24 000 Tonnen, schätzt einer der Techniker. Wie lange man damit noch beschäftigt sein werde? 20 Jahre mindestens, sagt der Mann mit einem fatalistischen Lächeln.

Im Inneren des Reaktors schlummert eine "lavaartige Masse"

Keiner dieser Abfälle stammt aus dem explodierten Reaktorblock 4. Es sind alles Überreste des ganz normalen Kraftwerksbetriebs. Tschernobyl ist nicht nur aufgrund der Katastrophe von 1986 ein Lehrbeispiel für die Nachteile der Kerntechnik. Dass es inmitten von alledem auch noch die berüchtigte Strahlenruine gibt, erkennt man am auffälligsten Gebäude des Geländes. Wie eine umgekippte, metallisch leuchtende Konservendose überragt das Halbrund des "New Safe Confinement", die neue Schutzhülle für den Unglücksreaktor, die Gebäude und die Birkenhaine der Umgebung.

Mehr als zwei Milliarden Euro, finanziert von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung sowie insgesamt 47 Nationen, wird das Spezialdach gekostet haben, wenn es in einigen Monaten über den maroden Betonsarkophag von Reaktor 4 geschoben wird. Es ist eine kaum vorstellbar aufwendige Hightech-Maschine. 110 Meter hoch, 165 Meter lang und 260 Meter ist sie breit. Das Dach würde locker über die Münchner Frauenkirche passen. Mehr als 30 000 Tonnen wiegt die künftige Abschirmung. Einen Tornado mit Windgeschwindigkeiten bis zu 320 Kilometer pro Stunde soll das Dach aushalten können. Weil keine Räder der Welt sich bei solch einem Gewicht drehen würden, muss das Monstrum auf Grafitschienen über die bisherige Betonhülle, den sogenannten Sarkophag, geschoben werden.

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SZ-Karte; Quelle: Vereinte Nationen/UNSCEAR

Dort soll das neue Dach die Unglücksruine hermetisch abschirmen und mithilfe ferngesteuerter Kräne in den kommenden Jahrzehnten abreißen und nach und nach entsorgen. Auf Anweisung der Sowjetführung waren in den Wochen nach dem Unglück vom April 1986 rund 5000 Tonnen Sand, Blei und Flüssigkeiten mit Helikoptern eilig in die offene Reaktorruine geschüttet worden. Selbst Nuklearexperten können heute nur rätseln, wie sich diese Materialien mit den rund 200 Tonnen geschmolzenen Brenn- und Spaltstoffen im Inneren des Blocks vermengt haben. Von einer "lavaartigen Masse" ist die Rede, die heute unter dem Sarkophag schlummern müsste. Sicher ist, dass enorme Mengen radioaktiven Materials dort eingeschlossen sind. Nur knapp vier Prozent des gesamten Brennstoffs aus dem Reaktorkern sind bei dem Unglück damals entwichen. Das reichte allerdings schon, um weite Teile Westeuropas mit radioaktiven Partikeln zu überziehen.

Die Arbeiten werden noch viel Geld kosten - und das nicht nur die Ukraine

Die neue Schutzhülle soll in den kommenden Jahrzehnten garantieren, dass kein Staub in die Umwelt dringt, wenn Block 4 abgetragen wird. Zu diesem Zweck muss das neue Dach permanent unter Unterdruck gehalten werden. Außerdem ist die Hülle doppelwandig gebaut mit einem Stahltragwerk dazwischen. Damit dieses nicht rostet, muss die Luftfeuchtigkeit zwischen der Innen- und Außenwand unter 40 Prozent bleiben.

Anders als die alte Betonhülle ist die neue Abdeckung mehr eine Maschine als ein Bauwerk. Deren Struktur mag vielleicht hundert Jahre halten, wie es geplant ist, aber sie muss eben auch hundert Jahre lang betrieben, mit Strom versorgt und überwacht werden, computergesteuert.

Das ist der Punkt, an dem Sorgen angebracht sind. Noch gilt die Abmachung zwischen den Geberländern und der Ukraine, wonach das neue Dach, wenn es fertig ist, übergeben wird, um fortan von einheimischen Technikern betrieben zu werden. Es besteht kein Zweifel, dass ukrainische Ingenieure dazu in der Lage wären. Doch der laufende Betrieb wird Geld kosten, viel Geld. Geld, das in der krisen- und kriegsgebeutelten Ukraine längst knapp geworden ist. Bereits im vergangenen Jahr hat der amtierende Kraftwerksdirektor einen Vertreter der Bundesregierung auf die weitere Finanzierung angesprochen. Man muss kein Prophet sein, um eines zu ahnen: Tschernobyl wird die europäischen Steuerzahler auch noch auf Jahre hinaus beschäftigen.

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