Genetik:Der Neandertaler in uns

Neandertaler waren nicht unterlegen

Ein Teils des Erbguts des Menschen stammt noch vom Neandertaler

(Foto: Gambarini/dpa)

Jeder Mensch trägt Erbgut der ausgestorbenen Urmenschen in sich. Jetzt zeigt sich: Die Gene unserer einstigen Verwandten machen sich bemerkbar. Womöglich erhöhen sie die Neigung zu Infarkten und Depressionen.

Von Hanno Charisius

Der Mensch neigt ja bei Problemen dazu, anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben. Diese Woche dient der Neandertaler als Sündenbock. Sein Erbgut könnte mit verantwortlich sein, dass manche Europäer an Depressionen, Hautkrankheiten oder Blasenproblemen leiden. So steht es in einem Report im Fachblatt Science. Der Neandertaler ist zwar vor 30 000 Jahren ausgestorben, tatsächlich lebt aber ein Teil seines genetischen Erbes bis heute in den meisten Menschen weiter. Der genetische Einfluss aus der Frühgeschichte der Menschheit sei "subtil", aber messbar und prägend, erklärt der Aufsatz. Zwölf Krankheiten oder äußere Merkmale hat das amerikanische Genetikerteam entdeckt, die durch diese Erblast beeinflusst werden. Dazu zählen auch Anfälligkeit für Tabaksucht oder eine verstärkte Blutgerinnung.

Dass der Neandertaler dem Menschen Gene mitgegeben hat, ist spätestens seit dem Jahr 2010 bekannt. Damals hatte der Paläogenetiker Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie EVA in Leipzig zusammen mit einer riesigen internationalen Forschertruppe eine komplette Genomkarte des Frühmenschen zusammengesetzt. Das Erbgut hatten sie in jahrelanger Arbeit aus fossilen Neandertalerknochen extrahiert, analysiert und rekonstruiert. Seither versuchen Wissenschaftler zu verstehen, was die Sequenzen dieses menschlichen Cousins im Erbgut von Homo sapiens bewirken. Ganz sicher handelt es sich nicht bloß um stumme Spuren längst vergangener Epochen. Doch wie groß der Einfluss des archaischen Erbmaterials noch heute ist, das wurde bislang unterschätzt. Pääbo, der nicht an der aktuellen Untersuchung beteiligt war, sagt: "Ich finde die Arbeit faszinierend. Manche Varianten schützen vor Krankheiten und andere machen anfälliger, aber insgesamt sind die Effekte größer, als ich erwartet habe."

Manche Gen-Varianten schützen vor Krankheiten, andere machen anfälliger

Wann und wie es die Neandertalergene ins menschliche Erbgut geschafft haben, dazu gibt es heute eine verbreitete Annahme. Vor etwa 70 000 Jahren haben sich demnach ein paar Homo sapiens von Ostafrika aus auf den Weg gemacht, und sich über viele Jahrtausende und noch mehr Generationen hinweg auf der ganzen Welt ausgebreitet. Irgendwo auf der Expansion, vielleicht im Mittelmeerraum, stießen diese Vorfahren der heutigen Erdbevölkerung erstmals auf eine andere Menschenart, die aus dem Norden gekommen war: Auch der Neandertaler stammte einmal aus Afrika, seine Vorfahren hatten sich nur bereits vor etwa 400 000 Jahren auf den Weg gemacht.

Man kann nur spekulieren, wie diese Begegnungen zwischen den beiden Menschenarten abliefen - blieb es friedlich, gab es Kämpfe? Fest steht, dass Homo sapiens und Homo neanderthalensis gemeinsame Kinder hatten. Und praktisch alle Nichtafrikaner dieser Welt sind Nachkommen dieser Vermischung. Wie ein fernes Echo findet man heute noch durchschnittlich etwa anderthalb bis zwei Prozent Neandertaler-Erbgut in der DNA der meisten Menschen. Bei Asiaten ist der Anteil etwas höher als bei Menschen mit europäischen Wurzeln.

Das Neandertaler-Erbe besteht nicht aus einzigartigen Genen, sondern aus leicht unterschiedlichen Varianten jener Erbanlagen, die Mensch und Neandertaler geteilt haben. Diese kleinen Unterschiede können einen Effekt haben, betont der Evolutionsgenetiker John Capra von der Vanderbilt University in Nashville, der die neue Studie zusammen mit Joshua Akey von der University of Washington in Seattle geleitet hat. Die unterschiedlichen Versionen des- selben DNA-Codes können etwa die Aktivität eines Gens der Nachbarschaft rauf oder runter regeln und so zum Beispiel die Entstehung von Krankheiten beeinflussen.

Homo neanderthalensis, Neanderthal Man skeleton model

Wie sein Genom wurde auch dieses Skelett eines Neandertalers aus Fragmenten zusammengesetzt - und die Lücken mit Fantasie sowie Vergleichen mit der Anatomie moderner Menschen gefüllt.

(Foto: interfoto)

Mehr als 100 000 solcher Neandertalüberbleibsel im menschlichen Erbgut hatten die Wissenschaftler bei ihrer Untersuchung im Blick. Sie werteten die Gesundheitsdaten von 28 416 Amerikanern aus, von denen auch ein genetisches Profil vorlag. Sie identifizierten die Neandertaler-DNA in den Genomen der Patienten und glichen diese Informationen mit den Patientenakten ab. So konnten die Forscher statistische Zusammenhänge zwischen dem Auftreten einer Krankheit oder Körpermerkmalen und Neandertaler-Varianten im Erbgut aufspüren. Bereits 2014 hatten Untersuchungen gezeigt, dass die Neandertaler-Erbanlagen vor allem in der Nähe von Genen liegen, die auch mit der Entstehung von Krankheiten zusammenhängen, wie sie nun durch die neue Arbeit in den Patientendaten gefunden wurden. Nur ließ sich ihr Beitrag zur Entstehung einer Krankheit da noch nicht bestimmen.

Neigung zur Nikotinsucht

Laut den neuen Ergebnissen scheint eine vom Neandertaler vererbte Variante dafür zu sorgen, dass das Blut der betroffenen Menschen leichter verklumpt. Als es noch keine Wundverbände gab, könnte das ein Überlebensvorteil für jene Individuen gewesen sein, die damit ausgestattet waren. Heute scheint diese Eigenschaft eher ein Nachteil zu sein - sie erhöht in einem Lebensalter, das Frühmenschen wahrscheinlich nie erreicht haben, das Risiko für Infarkte.

"Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie sehr der Effekt einer Erbgutvariante von der Umgebung abhängt, in der ein Mensch lebt", sagt Capra. "Unter bestimmten Bedingungen kann eine Variante einen Vorteil bringen und unter anderen Umständen ein Nachteil sein." Ein kurioses Beispiel dafür sei auch die Variante, die heute die Neigung zu Nikotinsucht verstärkt. Tabak gab es im Lebensraum der Neandertaler nicht und auch keine andere Pflanze mit nennenswerter Nikotinmenge. "Gut möglich, dass diese Genvariante vor 50 000 Jahren einen komplett anderen und nützlichen Effekt hatte", sagt Capra. Vielleicht hatte sie aber auch keine Bedeutung und tritt erst in unserer heutigen Umgebung überhaupt hervor. Jene Genvariante, die früher Menschen half, mit Hungerphasen umzugehen, dürfte hingegen mit Sicherheit ein Vorteil gewesen sein. Sie ist unter Nachkommen der Ureinwohner Amerikas weitverbreitet, führt im Zeitalter des Nahrungsüberflusses allerdings zu einem erhöhten Diabetesrisiko.

Möglicher Einfluss auf das Verhalten

Erstaunt waren Capra und seine Kollegen vor allem von jenen Varianten, die das Risiko erhöhen, Depressionen oder andere psychische Probleme zu entwickeln. Darauf hatte es zuvor noch nie Hinweise gegeben. Mehr als zwei Dutzend Erbanlagen scheinen jedoch Genaktivitäten in verschiedenen Hirnbereichen zu steuern.

Doch Capra ist vorsichtig bei der Interpretation: "Es sieht aus, als würde Neandertaler-DNA Stimmung und Verhalten beeinflussen können, mehr kann man dazu momentan nicht sagen." Sehr wahrscheinlich seien weder die Neandertaler noch unsere frühen Vorfahren depressiv gewesen, sagt der Evolutionsgenetiker, und die Variante führe sicher nicht zwangsläufig zu einer Erkrankung. "Depressionen sind eine unglaublich komplexe Erkrankung, bei der sehr viele genetische und Umweltfaktoren zur Entstehung beitragen."

Um lediglich etwa ein Prozent kann Neandertal-DNA das Risiko erhöhen, im Laufe des Lebens diese psychische Störung zu entwickeln. Dies liege im Größenbereich anderer genetischer Varianten, die das Risiko ebenfalls beeinflussen, so Pääbo. "Wer diese Variante trägt, muss sich also keine Sorgen machen. Dazu ist der Einfluss der einzelnen Veränderung zu gering. So wie bei den meisten Krankheiten mit komplexen genetischen Entstehungsmechanismen."

Der Neandertaler im Menschen macht aber nicht nur krank. Er kann auch schützen. So wie es genetische Varianten gibt, die Depressionen begünstigen, gibt es auch solche, die ein Risiko mindern. Das Immunsystem des modernen Menschen hat von der Vermischung mit dem Neandertaler offenbar profitiert. Erst vor einigen Wochen wurde dies unter anderem durch eine Untersuchung von Forschern des EVA in Leipzig bestätigt. Janet Kelso und ihre Kollegen zeigten, dass einige archaische Erbanlagen die Immunabwehr gegen Pilze, Parasiten und Bakterien mobilisieren. Drei Varianten stechen dabei heraus, die sich im Erbgut vieler Europäer und Asiaten finden lassen. Der Vorteil liegt hier auf der Hand: Nachkommen mit diesem genetischen Erbe hatten einen Überlebensvorteil in den neu eroberten Lebensräumen außerhalb Afrikas, in denen es neue Krankheitserreger und Nahrungsquellen gab. Der Preis für das verbesserte Immunsystem könnten heute Allergien sein. Diese entstehen, weil die übereifrige Abwehr in der heutigen sauberen Welt mit desinfiziertem Wasser und Industrienahrung immer weniger zu tun hat und sich daher etwa gegen Graspollen oder Inhaltsstoffe von Nahrungsmitteln richtet.

Die Vermischung mit dem Neandertaler - eine evolutionäre Abkürzung

Weil der Neandertaler mindestens 200 000 Jahre lang Zeit hatte, sich an das Leben im Norden, an die Temperaturen, die Lichtverhältnisse, die Nahrung, die Parasiten und Krankheitskeime zu gewöhnen, war er gut angepasst, als der moderne Mensch schließlich auf ihn stieß. Die Vermischung mit den angepassten Neandertalern war für den Menschen so etwas wie eine evolutionäre Abkürzung. Überall, wo Homo sapiens auf seinem Eroberungszug um die Welt hinkam und auf andere Frühmenschen stieß, sammelte er die vorteilhaften Gene von denen auf, die dort bereits optimal angepasst lebten.

Das machte der moderne Mensch auch, als er in Mittelasien auf den Denisova-Menschen traf. 80 Prozent aller Tibeter tragen genetische Varianten dieses Verwandten des Neandertalers in ihren Zellen, die ihnen helfen, in der dünnen Luft des tibetanischen Hochlands zu leben, sagt Pääbo. Der Denisova-Mensch stammt wahrscheinlich wie der Neandertaler und auch der moderne Mensch vom Homo heidelbergensis ab. Dieser verließ vor 300 000 bis 400 000 Jahren Afrika und teilte sich bald in zwei Gruppen auf. Eine zog nach Europa und Westasien und entwickelte sich zum Neandertaler, die andere wanderte weiter in den Osten und wurde zum Denisova-Menschen. Aus Homo-heidelbergensis-Populationen, die in Afrika geblieben waren, entwickelte sich vor mehr als 100 000 Jahren Homo sapiens, der sich dann später ausbreitete und auf seine archaischen Cousins stieß.

Wären die Frühmenschen einander nicht begegnet, wir wären heute nicht, wer wir sind

Die Neandertaler-DNA taucht in einigen Bereichen des Genoms vermehrt und in anderen gar nicht auf, woraus Genetiker schließen, dass ihr Einfluss dort Nachteile brachte. Deshalb gingen diese Varianten im Laufe der Menschheitsgeschichte schnell wieder verloren. Keine vererbte Variante ist so bedeutsam, dass sie bei jedem Menschen auftauchen würde. Weshalb viele Anthropologen das alte Erbgut bislang auch für unwichtig gehalten haben.

Die Paläogenetiker sind überzeugt, erst einen Teil des alten Erbes entdeckt zu haben. Es zu verstehen, wird Jahre in Anspruch nehmen. Um die unterschiedlichen Funktionen der Varianten zu ergründen, muss man diese Erbanlagen in Versuchstiere einschleusen, um dort die Veränderungen zu studieren. Capra und andere hoffen, so biologische Krankheitsmechanismen besser erklären und vielleicht auch neue Therapien entwickeln zu können. Svante Pääbo denkt, dass sich so viel über den Neandertaler und auch die Entwicklung des Menschen lernen lässt. Schließlich stehen die Varianten nicht nur mit Krankheiten in Zusammenhang. Diese lassen sich nur einfacher in Krankenakten aufspüren. Positive Begleiterscheinungen werden dort nicht registriert, wodurch ein verzerrtes Bild vom Einfluss der Neandertaler entsteht.

Manche Forscher vermuten, der Mensch habe den Neandertaler ausgelöscht. Belastbare Belege gibt es für diese Hypothese nicht. Genauso gut könnte die Begegnung zwischen den entfernten Verwandten auch friedlich verlaufen sein, und die Neandertaler sind irgendwann in einer schneller wachsenden menschlichen Bevölkerung untergegangen. Ihre Gene haben jedenfalls zur Erfolgsgeschichte des Homo sapiens beigetragen. Hätte die Begegnung mit fremden Genspendern nie stattgefunden, wir wären heute nicht die Menschen, die wir sind.

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