Stabilitätspakt:Biegen, nicht brechen

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Sigmar Gabriel (l.) und Hollande: Ende des strikten Sparkurs und mehr Spielraum für staatliche Investitionen, die Wachstum und Arbeitsplätze (Foto: AFP)

Die linken EU-Regierungen wollen den Euro-Stabilitätspakt "flexibel" auslegen, um mehr Geld ausgeben zu können. SPD-Chef Gabriel erinnerte dabei an Schröders Agenda 2010.

Von Cerstin Gammelin, Brüssel, und Christian Wernicke, Paris

Ein erlesener Kreis europäischer Wirtschaftspolitiker saß Ende Mai in Brüssel zusammen. Unter ihnen Jean Pisani-Ferry, französischer Ökonom und seit zwei Jahren Chefberater der sozialistischen Regierung in Paris. Geschickt ließ er die Position der Sozialisten in die Debatte einfließen. Es ging um diese Fragen: Wie kann man Investitionen und Unternehmen fördern und dadurch Arbeitsplätze schaffen, um die Arbeitslosigkeit abzubauen? Und: Ist die von Deutschland vehement geforderte Stabilitätspolitik, die strikte Grenzen für das Haushaltsdefizit fordert, dafür wirklich die Voraussetzung?

Der Franzose schlug "ein kleines Gedankenspiel" vor. "Stellen Sie sich vor, Griechenland hätte sein riesiges Defizit erst ein Jahr später entdeckt und die Krise in Europa wäre wegen der Immobilienblasen in Spanien und Irland ausgebrochen." Pisany-Ferry ließ die Phantasie seiner Zuhörer arbeiten, schwieg ein paar Sekunden, bevor er weiterredete: "Glauben Sie, dass es dann auch diese drastischen Sparprogramme gegeben hätte und die Krise als Schuldenkrise bezeichnet würde? - Nein, natürlich nicht!" Banken und Finanzpolitiker hätten sich dann zu verantworten gehabt. Auch die Deutschen. Voilà!

Das Treffen war eins von vielen, in denen die europäischen Sozialisten nach der EU-Wahl deutlich machen, wie sie sich die europäische Wirtschaftspolitik der nächsten Jahre vorstellen: Weg vom deutschen Spardiktat! In der seit der Einführung des Euro tobenden Debatte, ob Regierungen in erster Linie rigide haushalten sollten oder doch mutig investieren, um Wachstum und Jobs zu fördern, wollen die von den Regierungen in Rom und Paris geführten Sozialisten aufs Investieren setzen. Sie wissen freilich, dass diese Forderung in den nördlichen Euro-Ländern - also vor allem in Deutschland, Finnland und den Niederlanden - auf Widerstand stößt. Deshalb deuten die Sozialisten zugleich einen möglichen Kompromiss an.

"Zeit gegen Reformen" - so lautet die mögliche Kompromissformel

"Zeit gegen Reform" - auf diese Formel wollen sie Europa einschwören. Regierungen, die ihren Bürgern spürbare Veränderungen zumuten - die etwa den Kündigungsschutz lockern, automatische Lohnsteigerungen abschaffen oder Zuschüsse kürzen -, sollen mehr zeitlichen Spielraum bekommen, um Haushaltsdefizit und Schulden abzubauen.

Aus Sicht von Sigmar Gabriel, SPD-Vorsitzender und deutscher Vizekanzler, steht nicht weniger als Wohl und Wehe des europäischen Einigungswerks auf dem Spiel. "Wir werden Europa zerstören, wenn es uns nicht gelingt, wieder mehr Menschen in Arbeit zu bringen", warnte der Sozialdemokrat nach dem Gipfeltreffen der Sozialisten am Wochenende in Paris. Im Innenhof des Hôtel de Marigny, einer Regierungsresidenz gleich neben dem Élysée-Palast, schien Gabriel zwar die warme Sommersonne ins Gesicht. Aber er bewahrt eine fast finstere Miene, als er an das Ergebnis der Europawahl und - "als ein Beispiel" - an den jähen Aufstieg des rechtsextremen Front National in Frankreich bei den Europawahlen erinnerte.

In Paris fiel Gabriel eine heikle Doppelrolle zu. Er musste, nach dem Rüffel von Kanzlerin Angela Merkel, als ihr Stellvertreter einerseits klarstellen, dass am Wachstums- und Stabilitätspakt nicht gerüttelt wird. Diesen Schwur, so beteuert ein Zeuge, hätten im Saal alle Teilnehmer der Runde geleistet, unter ihnen neun Staats- und Regierungschefs. Andererseits wollte Gabriel mithelfen, den Sozialisten ihren Wunsch zu erfüllen - den nach einem anderen Kurs: Geldausgeben für Wachstum und Jobs. Dazu, so Gabriel, müsse Europa "die Spielräume ausnutzen", die das bestehende Regelwerk biete.

Gabriel und Gastgeber François Hollande, der französische Präsident, erinnerten dabei an Deutschland. Genauer: an die Agenda 2010 von SPD-Kanzler Gerhard Schröder und dessen Bruch der Regel aus dem Stabilitätspakt, wonach das jährliche Etatdefizit nicht mehr als drei Prozent der Wirtschaftsleistung betragen darf. Schröders Bruch dieser Regel habe zum Ziel gehabt, "harte Reformen mit mehr Zeit zum Schuldenabbau zu verbinden", sagte Gabriel. Schröder habe gehandelt, Frankreichs konservativer Präsident Jacques Chirac hingegen nicht: "Das müssen die Sozialisten hier nun ausbaden."

Wie ein neuer Kurs genau umgesetzt würde, damit mochte sich Gabriel in Paris nicht aufhalten. Immerhin deutete er an, was er unter "mehr Flexibilität beim Stabilitätspakt" versteht. Wenn eine Regierung auf 20 Milliarden Euro an Einnahmen verzichte, weil sie die Lohnnebenkosten senke und so Arbeit billiger mache, dann solle die EU-Kommission das bei der Defizitberechnung berücksichtigen. Gabriels Zahl war nicht aus der Luft gegriffen: 20 Milliarden Euro, so weiß Gabriel, fehlten damals Schröder beim Defizitabbau - ungefähr 20 Milliarden Euro verspricht Hollande derzeit Arbeitgebern als Nachlass.

Als zweites Beispiel diente Italien, dessen Schuldenberg auf 130 Prozent der Wirtschaftsleistung angewachsen ist. Rom kann keine neue Schulden machen, ohne die junge Generation endgültig aus dem Land zu treiben. Martin Schulz, der alte und vielleicht neue Präsident des Europaparlaments, lobte in Paris minutenlang das "eindrucksvolle Reformprogramm" der sozialdemokratischen Regierung. Dennoch könne das Land 15 Milliarden Euro an EU-Investitionszuschüssen nicht abrufen, weil die EU-Kommission die nötige nationale Kofinanzierung missbillige: "Da beißt sich die Katze doch in den Schwanz", empörte sich Schulz. Weshalb es wiederum logisch ist, dass Italiens Premier Matteo Renzi vereinfachte Zugangsbedingungen zu Europas Geldtöpfen fordert, um seine angekündigten Investitionspläne umsetzen zu können.

Herman Van Rompuy, EU-Ratspräsident und Chefvermittler zwischen den politischen Lagern, hat sich die Forderungen aus Paris genau angehört. Im Prinzip sei das alles nichts Neues, heißt es in Brüssel. Eine Seite fordere Solidarität, also mehr Zeit und bessere Finanzierungsbedingungen. Die andere Seite bestehe auf strukturellen Reformen. "Solidarität gegen Reformen" - die scheinbar unvereinbaren Forderungen enden also in einer Formel, die auch Merkel problemlos unterschreiben kann.

© SZ vom 23.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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