Familienpolitik:Flickwerk

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Immer mehr Mütter und Väter wollen arbeiten - und trotzdem Zeit mit der Familie verbringen. Geht aber kaum! Die deutsche Gesellschaft zerreibt eine Generation, die es anders machen möchte.

Von Alexander Hagelüken

Auch der Minister kommt manchmal später ins Büro, weil er ein guter Vater sein will. Heiko Maas, in der Bundesregierung zuständig für die Justiz, erzählte kürzlich, dass er einmal die Woche später zu arbeiten beginne, weil er seine Kinder erst zur Schule bringe. Von den vielen SMS, die er jeden Tag erhalte, sorge ihn eine am meisten: die Frage seines Sohnes, wann er nach Hause komme.

Vor 15 Jahren hätte Maas seine Sorgen als Vater wohl für sich behalten, weil man ihn sonst schief angesehen hätte. Vor 15 Jahren sorgte der Autor dieser Zeilen für Irritationen, als er einen heutigen Ministerpräsidenten bat, das Telefonat zu verschieben, weil im Büro der kranke Sohn zu wickeln sei.

Es hat sich etwas geändert, ohne Zweifel: Heute muss ein Vater nicht mehr peinlich verheimlichen, dass ihm seine Kinder und Familie, die Nöte daheim und im Kindergarten oder in der Schule genauso wichtig sind wie die Arbeit, die Karriere, die berufliche Anerkennung (und manchmal sogar noch wichtiger!). Umfragen zeigen, dass sich heute in vielen Familien Väter und Mütter die Erziehung der Kinder teilen wollen - und dass auch beide arbeiten wollen, oft schon weil sie es müssen.

Nur kollidiert dieser Wunsch (beziehungsweise dieser Zwang) oft hart mit der Realität. Wenn das erste Baby kommt (und dann vielleicht auch noch das zweite oder dritte), lassen viele Mütter oft lange ihren Beruf ruhen, auch wenn sie das gar nicht wollen; es fehlt ihnen aber einfach an der notwendigen Unterstützung. Väter machen dagegen weiter wie vorher, weil das in vielen Unternehmen erwartet wird.

Und wenn Mütter dann ins Berufsleben zurückkehren, arbeiten sie oft Teilzeit. Zwei Drittel der Mütter mit minderjährigen Kindern tun das nicht selten zu ungewollten Bedingungen - sie bekommen zum Beispiel nur einen Vertrag über 17 oder 20 Stunden statt der gewünschten 30 Stunden, die für ihre Karriere wichtig wären. Mütter in Vollzeit dagegen quält oft ein schlechtes Gewissen, zu wenig für ihre Kinder da zu sein. Zunehmend empfinden das auch Väter so, aber Vollzeit - oder gar 50- oder 60-Stunden-Wochen - sind für viele Jobs mit Anspruch noch immer die Norm.

Der Familienalltag wird dadurch zum prekären Konstrukt aus Kita, Oma und Heimfahrten jenseits des Tempolimits. Stress wird zum Lebensgefühl. Wenn ein Kind erkrankt, plötzlich eine Dienstreise ansteht oder die Kita streikt (wie in den vergangenen Wochen), bricht das sorgsam austarierte Modell vieler Familien zusammen. "Schulzeiten harmonieren selten mit Arbeitszeiten", schreibt die Management-Autorin Laura Vanderkam, die das Leben weiblicher Führungskräfte untersucht hat. "Manager behandeln Mitarbeiter manchmal als weniger engagiert, nur weil sie Kinder haben. Die Gesellschaft könnte viel mehr tun, damit Arbeit und Leben vereinbarer werden."

Man könnte einwenden: Ist doch Privatsache, wenn beide Eltern arbeiten wollen. Sollen sie sich doch selber kümmern und die Konsequenzen aushalten. Und natürlich ist es zuvorderst die Aufgabe jedes einzelnen, sein Leben zu organisieren. Aber wer argumentiert, die Bedürfnisse arbeitender Eltern gingen Politik und Gesellschaft nichts an, übersieht vieles. Gerade in einer alternden Gesellschaft wäre es wichtig, dass mehr Frauen arbeiten; sie stärken damit das Wirtschaftswachstum und tragen dazu bei, die Sozialkassen zu füllen. Wer als Frau gar nicht erst richtig in einen Beruf startet, wird zudem später oft finanziell schlechter gestellt: Das Scheidungsrecht geht inzwischen davon aus, dass beide Partner einem Job nachgehen. Und wer nicht selber in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlt (die ohnehin immer weniger einbringt) und darüber hinaus nicht privat vorsorgt, kann später schnell zum Sozialfall werden.

Illustration: Stefan Dimitrov (Foto: Stefan Dimitrov)

Wenn also Gesetze unterstellen, dass Männer und Frauen arbeiten und dies ökonomisch immer häufiger auch zwingend ist, sollte den jungen Eltern auch geholfen werden, das auf befriedigende Weise zu schaffen. Solange es an Hilfe fehlt, hat Deutschland nicht zufällig eine so niedrige Geburtenrate.

Das Schöne ist, dass die amtierende Regierung unablässig betont, wie sehr sie sich um arbeitende Eltern und ihre Familien kümmern will. Dass Unschöne ist, dass diese Beteuerungen oft nicht mit der Wirklichkeit harmonieren.

Wer die Politik der Regierung von Angela Merkel analysiert, stößt auf ein trauriges Chaos: Union und SPD treiben Gesetze und Ideen voran, die sich völlig widersprechen - hier das Betreuungsgeld, dort der Kita-Ausbau; hier das Elterngeld und die 32-Stunden-Woche, dort das Festhalten am Ehegattensplitting. Es erinnert an italienische Multiparteien-Koalitionen, in denen bis zur Steuerfreiheit für sizilianische Kampfhunde jeder seine Spezialwünsche durchsetzt. Dabei besteht diese Regierung doch nur aus Union und SPD.

Jede Euro mehr für Kitas bringt fünf Mal so viel wie jeder Euro mehr fürs Kindergeld

Eindeutig ist, dass der Ausbau von Kitas arbeitenden Eltern sehr hilft. Viele Frauen können sich nur dann vorstellen, ein Kind zu bekommen, wenn die Betreuung gesichert ist - weil sie nur dann die Chance sehen, Arbeit und Familie zu vereinbaren. In Regionen, die rasch Kitaplätze schufen, entwickelte sich die Geburtenrate positiver, ermittelte der Ökonom Helmut Rainer: Pro hundert neuer Kitaplätze lassen sich neun Neugeborene mehr zählen. Jede Milliarde Euro zusätzlich für den Kita-Ausbau hat einen fünf Mal so starken Effekt auf die Geburtenrate wie eine Milliarde zusätzlich, die die Politik in ein höheres Kindergeld steckt.

Weil die Kitas so viel bewirken, wäre es eigentlich zwingend, noch mehr Geld dafür auszugeben: Nach wie vor fehlen Plätze, schließen Einrichtungen zu früh am Tag oder verfügen über zu wenig Personal.

Viel bewirken könnte auch eine Idee von Familienministerin Manuela Schwesig: Sie will Eltern mit jungen Kindern ermöglichen, dass beide ihre Wochenarbeitszeit vorübergehend auf 32 Stunden reduzieren. Denn mit kleinen Kindern sind zwei Vollzeitjobs oft nicht zu bewältigen - oder die Familie leidet, vor allem die Kinder. Funktionieren wird Schwesigs Idee wohl nur mit finanziellen Anreizen. Doch für all das - Kita-Ausbau, 32-Stunden-Woche - fehle, so hört man immer wieder, das Geld.

Nur: Das Geld fehlt gar nicht; der Staat hat es - aber er gibt es an anderer, falscher Stelle aus. Für Zwecke, die das Geschlechter- und Familienbild des vergangenen Jahrhunderts zementieren.

Da ist zum einen das Betreuungsgeld für Mütter, die daheim bleiben - ein Spezialwunsch der CSU. Und da ist zum anderen, noch bedeutsamer, das Ehegattensplitting, das immer dann einen besonders hohen Steuervorteil gewährt, wenn ein Ehepartner zu Hause bleibt und nichts zum Familieneinkommen beiträgt. Wenn eine Frau nach den ersten Kinderjahren wieder arbeiten geht, wirkt der Verlust des Splittingvorteils wie eine Strafsteuer. Wer dann auch noch die Kita-Gebühren dazurechnet, fühlt sich doppelt besteuert und fragt sich, ob der ganze Aufwand für das magere Zusatzeinkommen lohnt.

Kurzum: Die Regierung verleidet Frauen (und manchen Hausmännern) das Arbeiten - während sie gleichzeitig davon redet, dass möglichst viele von ihnen arbeiten sollen. Mit der Förderung von Familien hat das Splitting jedenfalls nichts zu tun; denn auch Kinderlose profitieren von dieser europaweiten Rarität, die jedes Jahr 20 Milliarden Euro verschlingt.

Untersuchungen belegen: Staatliche Anreize beeinflussen, ob jemand arbeitet oder zu Hause bleibt. Das Geld übt großen Einfluss aus. Umso absurder wirkt es, wie die Regierung Eltern mit dem Kita-Ausbau und dem Elterngeld in eine Richtung zieht und mit dem Betreuungsgeld und dem Splitting in die andere. Dazu noch das Kindergeld, das wenig bringt, aber viel kostet.

Was ist also los mit dieser Regierung? Warum nutzt sie nicht die Chance, arbeitenden Eltern eindeutig zu helfen? Warum profiliert sie sich nicht mit einem Thema, das viele in der Mitte der Gesellschaft bewegt und längst aus dem Gedöns-Ghetto entkommen ist? Zur Wahrheit gehört wohl, dass die große Koalition in dieser Frage tatsächlich einer italienischen Multiparteienkoalition ähnelt: mit progressiven Frauen und Männern, Schwesig vorneweg, aber auch mit Desinteressierten in Union und SPD; und mit den konservativen Fundis vor allem in der CSU.

Wenn die SPD klug ist, treibt sie die Union noch mehr vor sich her mit einem Thema, das ihr die Wechselwähler zutreiben könnte. Nachdem die Kanzlerin die 32-Stunden-Woche zum "persönlichen Debattenbeitrag" Schwesigs herunterstufen ließ, war die Familienministerin teils arg still. Dabei ließe sich mit einer modernen Familienpolitik, von der viele Eltern profitieren, Wahlkampf betreiben.

Regierung und Unternehmen handeln oft widersprüchlich und tun zu wenig für die Eltern

Wer ehrlich sein will, weiß aber auch: Es kommt nicht allein auf die Regierung an - sondern auch auf die Unternehmen; und die verhalten sich ebenfalls widersprüchlich. Viele Ankündigungen gibt es, wie familienfreundlich man sein will. Die Realität sieht aber in vielen Betrieben anders aus. Die Präsenzkultur regiert nach wie vor. Teilzeit, Job-Sharing oder Arbeit von zu Hause sind häufig unmöglich oder gereichen, wenn sie beantragt werden, dem Arbeitnehmer zum Nachteil.

Im Ausland lässt sich studieren, dass es anders geht, in Politik und Wirtschaft; dort könnte man lernen, wie sich wirklich ein starkes Signal setzen ließe, um jungen Familien zu helfen. In Frankreich gilt es als selbstverständlich, dass der Staat für gute Kinderbetreuung sorgt; ein Familiensplitting, bei dem der Steuervorteil anders als beim Ehegattensplitting nicht vom Trauschein, sondern von der Zahl der Kinder abhängt, fördert Familien statt kinderlose Paare. In Schweden gilt Gleichberechtigung als hoher Wert und prägt den Berufsalltag: Weniger Präsenzkultur und Meetings nach 17 Uhr.

Die deutsche Gesellschaft ist gerade dabei, eine Generation von Eltern zu zerreiben, die es anders machen möchten, die Arbeit und Familie vereinbaren wollen, ohne überkommene Geschlechterrollen zu betonieren. Der Druck auf sie ist groß, zu groß. Womöglich wird dies einmal als zentraler politischer Fehler dieser Jahre erkannt werden.

© SZ vom 13.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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