Kostenloser öffentlicher Nahverkehr:Eingeparkt zwischen Daimler und dem Wunsch nach sauberer Luft

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S-Bahn-Station in Herrenberg: Bald sollen die Bürger in dem Städtchen umsonst mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren können – ein Versuch. Der Anruf dazu kam überraschend aus Berlin. (Foto: Marijan Murat/dpa)
  • Herrenberg in Baden-Württemberg ist eine von fünf Städten, in denen Deutschland ein Konzept für kostenlosen Nahverkehr entwickeln will.
  • Doch das Autofahren zu regulieren fällt dort besonders schwer: Die Kleinstadt liegt im Einzugsgebiet der Daimler-Werke, in denen die S- und E-Klassen produziert werden.
  • An diesem Montag beraten Bundesregierung und die betroffenen Bürgermeister in Bonn über die Pläne.

Von Stefan Mayr, Herrenberg

Heike Völker muss nur einmal den Kopf hin und her drehen, schon hat sie das ganze Dilemma ihrer Stadt vor Augen. Wenn sie nach rechts aus den raumhohen Fenstern des Café Barista blickt, sieht sie die Überreste der ehemaligen Herrenberger Stadtmauer und hübsch restaurierte Fachwerkhäuser. Ein lockender Anblick. Wenn sie aber nach links schaut, sieht sie nur Autos, Autos, Autos. An der nächsten Ecke, am Reinhold-Schick-Platz, treffen gleich zwei Bundesstraßen aufeinander, mitten in der Stadt, vor der Ampel ist immer Stau. Ein abstoßender Anblick. "Der Verkehr wurde hier schon für unzumutbar empfunden, als noch niemand über Feinstaub und Stickstoff-Grenzwerte gesprochen hat", sagt die promovierte Geo-Wissenschaftlerin.

Als Sprecherin der Lokalen Agenda 21 setzt sich die 55-Jährige ehrenamtlich dafür ein, ihre Heimatstadt lebenswerter zu machen. Der Erfolg könnte größer sein. "Herrenberg ist eine schöne Stadt", sagt sie, "aber sie leidet sehr unter dem Verkehrsaufkommen." Herrenberg, die Stadt der zwei Gesichter. Oben am Marktplatz richtig schön, unten am Schick-Platz brutal hässlich. Man könnte auch sagen: eine Schönheit im Dornröschenschlaf, vergiftet von stinkenden Autos, die sie täglich zu Tausenden heimsuchen.

OB Sprißler weiß nicht, warum Herrenberg auf der Liste der Regierung steht

Seit einer Woche ist das 32 000-Einwohner-Städtchen aus dem Speckgürtel Stuttgarts bundesweit ein Begriff; die Bundesregierung hatte den Flecken in einem Brief an die EU-Kommission als Musterstadt für kostenlosen öffentlichen Nahverkehr ins Spiel gebracht. Warum ausgerechnet Herrenberg? Vielleicht, weil man in Berlin auch eine Kleinstadt in die Liste aufnehmen wollte neben Essen, Bonn, Mannheim und Reutlingen. Vielleicht, weil auch in Herrenberg die Stickoxid-Grenzwerte überschritten werden, und weil der Oberbürgermeister seit Jahren versucht, dieses Problem zu lösen.

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OB Thomas Sprißler weiß selbst nicht so recht, wie er auf die Liste gekommen ist. Der Anruf aus dem Kanzleramt kam am "Fasnet-Sonntag", in aller Herrgottsfrüh. Am Apparat war Staatsminister Helge Braun. Er erklärte dem verdutzten Sprißler, dass Herrenberg auf der Liste stehe. Warum? Das sagte Braun laut Sprißler nicht. Der OB - nicht etwa CDU-Mann, sondern Freier Wähler - vermutet, Herrenberg sei in Berlin aufgefallen, weil die Stadt an einem Mobilitätskonzept herumbastelt und einen sogenannten "Green Plan" aufgestellt hat, für den die Stadt 90 000 Euro Fördermittel bekam.

Bislang war Sprißlers Kampf gegen die Schadstoffe nicht sehr erfolgreich. Zu gegensätzlich sind die Konzepte und Forderungen der Bürger und Gemeinderäte. Die einen wollen die Autos aus der Innenstadt verbannen, die anderen nicht. Heike Völker wünscht sich ein besseres Busangebot und zumindest tageweise eine Umwidmung von Parkplätzen in Radstellplätze. "Man muss das Autofahren weniger attraktiv machen", sagt sie. "Der Leidensdruck auf die Autofahrer muss erhöht werden. Zum Beispiel muss das Parken teurer werden." Martin Breitner vom Gewerbeverband sieht das ganz anders. "Wenn wir alle Autos aussperren, ist am Ende vielleicht die Luft in der Stadt sauberer", sagt der Geschäftsführer eines Schuhhauses, "aber dann fahren die Leute in eine andere Stadt. Und die Schadstoffe sind dadurch nicht aus der Welt, sondern nur woanders."

"Das Automobil ist Grundlage unseres Wohlstands"

Der OB steht zwischen diesen Polen in der Mitte. "Wir brauchen alle Mobilitätsarten", sagt Sprißler. Er selbst lebt das vor: Regelmäßig kurvt er mit dem Fahrrad durch die Gassen der Stadt. Zu Terminen in Stuttgart nimmt er oft den Regional-Express. Aber natürlich hat er auch einen Dienstwagen mit dem Stern. Daimler ist der größte Arbeitgeber im Landkreis Böblingen. Im nahen Sindelfingen sitzt das prestigeträchtigste Mercedes-Werk mit Forschung und Entwicklung - und hier rollen die S- und E-Klasse vom Band. Das Beste, was es gibt unter dem Stern aus Stuttgart. "Das Automobil ist Grundlage unseres Wohlstands", sagt der Oberbürgermeister, "da verteufelt man den Pkw nicht."

Auch das gehört zur DNA der Zwei-Gesichter-Stadt: Viele Einwohner und Wähler verdienen ihre Brötchen in der Auto-Industrie, da ist jede Erhöhung der Parkgebühren noch viel schwieriger als anderswo. Als Mittelzentrum mit S-Bahn-Anschluss hat Herrenberg eigentlich alles, was das Bürgerherz begehrt. Dennoch verzichtet hier kaum einer auf sein Automobil.

OB Sprißler ist quasi eingeparkt zwischen dem Wunsch der Bürger nach sauberer Luft und weniger Lärm einerseits und der Solidarität zur Industrie andererseits. Was soll man da machen als Politiker, um die Autos aus der Stadt zu bekommen? Sprißler hat einen Weg gefunden: Seit drei Jahren gibt es das Stadtticket. Für 1,80 Euro pro Fahrt kann man die Busse in der gesamten Stadt nutzen. Als der Verkehrsverbund Stuttgart rundherum die Preise erhöhte, machte Herrenberg nicht mit. Die Differenz - mehr als 40 000 Euro pro Jahr - zahlt die Stadt aus dem eigenen Säckel. Es lohnt sich: In den Bussen sitzen 20 Prozent mehr Fahrgäste. Aber die Frage ist: Sind die neuen Busfahrgäste wirklich Leute, die ihre Autos stehen lassen? Oder eher Fußgänger, die jetzt öfter einsteigen?

"Zahlen muss der Bund"

Trotz des Grundsatz-Streits sind sich die Herrenberger Bürger in zwei Dingen einig. Erstens: Es muss sich dringend etwas ändern. Zweitens: Alle hoffen, dass der Brief aus Berlin die Jahrzehnte lange Blockade endlich löst. "Es brodelt", sagt Werner Ueltzen, der Ortsvorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC). "Ich denke, das bringt neuen Schwung." Aber bei allem Optimismus - dass die Busse bald gratis rollen, kann sich keiner so richtig vorstellen.

"Ich glaube nicht, dass das flächendeckend und unbefristet kommen wird", sagt OB Sprißler. "Auf den ersten Blick klingt die Idee gut, aber der zweite Blick relativiert so manches." Vieles sei noch "sehr, sehr offen". Er interpretiere den Brief so, dass man eher zeitweise bei gewissen Wetter- und Schadstofflagen kostenlose Fahrten anbietet. Schließlich seien da noch die Kosten: Zum Einnahme-Ausfall durch Gratis-Busse käme ja hinzu, dass die steigende Nachfrage mehr Kapazitäten erfordert - und weitere Kosten verursacht. Dennoch würde er sich über die Chance freuen, so etwas auszuprobieren. Dabei müsse aber klar sein: Zahlen muss der Bund.

Thomas Sprißler und Heike Völker sprechen beide von einer "guten Idee", den Nahverkehr stärker zu fördern. Aber sie betonen auch, Gratis-Tickets alleine würden kein Problem lösen: "Die Reisedauer ist wichtiger als der Preis", sagt Völker. "Ohne mehr Haltestellen, ohne besseren Takt und ohne Ausrichtung am Bedarf wird der Autoverkehr nicht weniger werden."

Ob, wann, wo und wie der kostenlose Nahverkehr kommt, werden Vertreter der fünf Städte und der Bund am Montag in Bonn diskutieren. "Danach wissen wir mehr", sagt OB Sprißler.

© SZ vom 22.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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