Mindestlohn:Soziale Politik von Konservativen

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Geringverdiener können in England mit höheren Löhnen rechnen. (Foto: Darren Staples/Reuters)

Großbritannien erhöht den Mindestlohn bis 2020 sukzessive auf 11,50 Euro. Kostet das nun Jobs?

Von Alexander Hagelüken, München

In Großbritannien regieren keine Sozialdemokraten mit. Premier David Cameron stützt sich allein auf seine konservative Partei. Doch mit dem Projekt, das am 1. April startete, stellt Cameron Deutschlands schwarz-rote Regierung mit ihrer SPD-Arbeitsministerin in den Schatten: Großbritannien erhöht den gesetzlichen Mindestlohn, und zwar kräftig. Beschäftigten muss seit Freitag umgerechnet etwa 9,15 Euro gezahlt werden, 7,5 Prozent mehr. Der deutsche Mindestlohn bleibt mit 8,50 Euro deutlich darunter.

Und die Erhöhung vom Freitag ist ja nur der Anfang. Bis 2020 soll die Bezahlung von Geringverdienern nach heutigem Kurs auf 11,50 Euro steigen. Dagegen wirkt der deutsche Mindestlohn bescheiden. Nach Schätzungen werden mehr als vier Millionen Briten von dem neuen Tarif profitieren, dazu deren Angehörige. Die Erhöhung wirkt dem Trend entgegen, dass die Arbeitgeber in einigen Branchen massiv Kosten senken. So sind inzwischen 60 Prozent der Mitarbeiter im Einzelhandel zu niedrigen Tarifen beschäftigt, der Anteil hat sich seit 1990 verdoppelt.

Die britische Maßnahme reicht manchen Kritikern trotzdem nicht aus. Die Entlohnung sei immer noch zu gering, um ein würdiges Leben zu ermöglichen, monieren sie. Und beklagen, dass die Lohnuntergrenze nur für Beschäftigte im Alter von 25 Jahren aufwärts gilt. Sie sehen das ganze zudem als Ausweichmanöver. Der britische Finanzminister George Osborne will das ewige Haushaltsdefizit bis 2019 in einen Überschuss verwandeln - und dazu im Sozialen fast 20 Milliarden Euro einsparen. Der höhere Mindestlohn gleicht das auf Kosten der Kunden und Arbeitgeber etwas aus. Die Regierung könnte sich nun einen Teil der staatlichen Zuschüsse sparen, die traditionell den Lohn von Geringverdienern aufstocken.

Anders als seine Kritiker feiert Osborne den Start des neuen Mindestlohns natürlich als großen Erfolg. Es handele sich wahrscheinlich um die Maßnahme seiner bisherigen Amtszeit, auf die er "am meisten stolz" sei, schrieb er in einem Kommentar für The Sun.

Der Schritt liegt durchaus im Trend. Der US-Bundesstaat Kalifornien beschloss am Donnerstag, den Mindestlohn in den nächsten sechs Jahren auf umgerechnet mehr als 13 Euro aufstocken. 17 der 22 EU-Staaten, die eine gesetzliche Untergrenze vorschreiben, haben den Betrag zum Anfang dieses Jahres angehoben. Nach einer Analyse der Hans-Böckler-Stiftung betrug der Anstieg 4,6 Prozent - nach 3,7 Prozent 2015. In Frankreich, den Niederlanden, Irland oder Belgien liegt die Lohnuntergrenze inzwischen ein gutes Stück oberhalb von neun Euro.

Die Regierung kann sich einen Teil der Zuschüsse für Geringverdiener sparen

Deutschland bleibt da in vielem ein Sonderfall. So gibt es in der Bundesrepublik überhaupt erst seit 2015 eine Lohnuntergrenze. In diesem Jahr gab es keine Erhöhung. Deutschland, das wirtschaftlich von allen größeren EU-Staaten in den vergangenen Jahren die beste Entwicklung zu vermelden hatte, liegt europaweit beim Mindestlohn auf dem siebten Platz. Die unabhängige Kommission, die darüber befindet, wird erst ab 2017 mehr Geld vorschlagen - im Gespräch ist eine Anhebung auf gerade mal 8,80 Euro. Die düsteren Prognosen von Arbeitgebern und Ökonomen, die den Start der Lohnuntergrenze begleitet hatten, haben sich bisher als falsch erwiesen. Anders als vorhergesagt, sind nicht in großer Zahl Arbeitsplätze verlorengegangen. Vielmehr spricht einiges dafür, dass teils geringfügige Jobs in Vollarbeitsplätze umgewandelt wurden. Allerdings half die gute Konjunktur auch sehr.

Umso spannender wird es für die Deutschen nun sein, das britische Experiment zu beobachten. Die deutliche Erhöhung auf 11,50 Euro bis 2020 stellt alles in den Schatten, was in Deutschland ernsthaft erwartet wird. Zudem hat sich die Regierung einfach über die unabhängige Kommission hinweggesetzt, die auch in Großbritannien über eine Verträglichkeit des Mindestlohns für die Zahl der Arbeitsplätze wachen soll.

Warnungen kommen nun aus typischen Schlechtzahlerbranchen wie der Gastronomie. Liberale Ökonomen prophezeien, der Anstieg werde die Zahl der unsicheren Jobs erhöhen, bei denen Unternehmen den Mitarbeitern keine feste Stundenzahl in der Woche anbieten. Im Extremfall haben sie dann auch mal null Stunden die Woche Arbeit. Es gibt auch offizielle Schätzungen. Demnach wird der Mindestlohn bis 2020 etwa 60 000 Jobs von Geringverdienern kosten. In einem Land mit mehr als 60 Millionen Einwohnern scheint dieser Verlust überschaubar.

Insgesamt wird der Mindestlohn in Großbritannien als Erfolgsmodell eingeschätzt. Wegen der moderaten Erhöhungen hat er seit seiner Einführung durch den Sozialdemokraten Tony Blair im Jahre 1999 nach Studien kaum Jobs gekostet.

© SZ vom 02.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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