Mehrwertsteuer:Mit Hörbuch am Currywurststand

Mehrwertsteuerausnahmen

Mehrwertsteuer: Jährlich Milliardenverluste durch Ausnahmen

(Foto: ag.dpa)

Sonderregeln, die niemand versteht: Ausnahmen bei der Mehrwertsteuer kosten den Staat jedes Jahr fast 30 Milliarden Euro. Eine große Reform der Steuersätze hat sich die große Koalition jedoch nicht vorgenommen. Im Gegenteil, bald soll es sogar noch mehr Sonderregelungen geben - zum Beispiel für Hörbücher.

Von Claus Hulverscheidt, Berlin

Sie ist schon oft erzählt worden, die Geschichte vom toten und vom lebendigen Esel, vom Adventskranz aus frischem und aus getrocknetem Moos, von den Sitz- und den Stehtisch-Pommes - so oft, dass mancher kaum glauben kann, dass es die vielen kuriosen Ausnahmeregeln im deutschen Mehrwertsteuerrecht im Jahr 2014 nach Christi Geburt tatsächlich noch gibt. Doch genau so ist es. Noch immer werden Austern mit 19, Trüffel dagegen mit sieben Prozent besteuert, kostet der Eintritt ins Fitnessstudio - steuerlich gesehen - mehr als der ins Schwimmbad, sind Nah- und Fernverkehrsfahrkarten für den Fiskus zwei völlig unterschiedliche Dinge.

Und eine Reform ist nicht in Sicht, im Gegenteil: CDU, CSU und SPD halten am bestehenden Modell mit zwei Steuersätzen nicht nur fest, sondern wollen den Ausnahmenkatalog sogar noch erweitern. So soll der verminderte Satz von sieben Prozent künftig auch für Hörbücher, per Download verbreitete Belletristik, Zeitungen und Zeitschriften sowie andere elektronische Informationsmedien gelten. Zudem werde man prüfen, so heißt es im Koalitionsvertrag, "ob weitere Umsatzsteuererleichterungen für künstlerische Berufe möglich sind".

Die Pläne werden das Regelwerk noch komplexer machen als bisher - und den Staat eine ordentliche Stange Geld kosten. Wie aus der Antwort des Bundesfinanzministeriums auf eine Anfrage der Grünen-Fraktion hervorgeht, wird allein die Steuersenkung für Hörbücher zu Einnahmeausfällen von 35 Millionen Euro im Jahr führen. Die Kosten der geplanten Ermäßigungen für E-Book und E-Paper ließen sich hingegen nicht quantifizieren, weil die Änderungen derzeit EU-rechtlich noch gar nicht zulässig wären. Angesichts der dynamischen Entwicklung dieses Bereichs könne eine grobe Abschätzung der Kosten "erst zeitnah erfolgen", heißt es in dem Schreiben aus dem Hause Schäuble.

Currywurst im Sitzen oder im Stehen? Steuerlich ein Unterschied

Laut Ministerium haben alle Mehrwertsteuerausnahmen zusammen den Staat im vergangenen Jahr um Einnahmen in einer Höhe von fast 29 Milliarden Euro gebracht. Das ist deutlich mehr, als bisher angenommen wurde. Zuletzt war als Faustformel für die Mindererlöse immer eine Summe von etwa 25 Milliarden Euro genannt worden. Angesichts der guten Konjunkturentwicklung haben sich jedoch die jährlichen Umsatzsteuereinnahmen auf zuletzt fast 200 Milliarden Euro deutlich erhöht - und mit ihnen die durch Sonderreglungen bedingten Einnahmeausfälle.

Dass es neben dem eigentlichen Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent einen zweiten, reduzierten Satz gibt, ist einem simplen, für viele Bürger durchaus nachvollziehbaren sozialpolitischen Gedanken geschuldet: Auch Geringverdiener müssen sich Nahrungsmittel leisten, mit dem Bus fahren, Zeitung lesen und am kulturellen Leben teilnehmen können, weshalb der Staat alle damit zusammenhängenden Produkte und Dienstleistungen nur mit sieben Prozent Umsatzsteuer belegt. Das Problem ist jedoch die Abgrenzung. Beispiel Currywurst: Wer sich den leckeren Dickmacher direkt an der Pommes-Bude im Stehen einverleibt, ernährt sich und zahlt nur sieben Prozent. Lässt sich derselbe Mensch dagegen einen Meter entfernt an einem eigens aufgestellten Tisch nieder, absolviert er steuerrechtlich gesehen einen Restaurantbesuch - und muss 19 Prozent berappen.

Der Bundesrechnungshof hat bereits vor einiger Zeit vernichtende Kritik an den unzähligen Ausnahmeregelungen geübt, weil sie nach seinem Dafürhalten zu Mitnahmeeffekten und Abgrenzungsproblemen führen, häufig gegen europäisches Recht verstoßen und zu Missbrauch geradezu einladen. Viele Ermäßigungen seien sachlich nicht mehr zu begründen und widersprüchlich, die Finanzämter stünden dem Wirrwarr zudem hilflos gegenüber. Die Rechnungsprüfer empfehlen daher, den Katalog der Steuervergünstigungen zu überarbeiten und jede einzelne Ausnahme kritisch zu hinterfragen.

Genau dasselbe fordern nun die Grünen von der neuen Bundesregierung. Sie wollen, dass nur noch Nahrungsmittel (ohne Außer-Haus-Umsätze der Gastronomie), der öffentliche Personennahverkehr und kulturelle Leistungen bevorzugt behandelt werden, nicht aber mehr Schnittblumen, Rollstühle, Kurbäder, kirchliche Einrichtungen, am Telefon bestellte Pizzen und vieles mehr. Der Staat käme damit auf jährliche Mehreinnahmen in Höhe von sechs Milliarden Euro, wie die Zahlen aus dem Finanzministerium zeigen. Demnach stellen die Nahrungsmittel mit Einnahmeausfällen von 19,3 Milliarden Euro den mit Abstand größten Posten unter den Ausnahmeblöcken - gefolgt von den Büchern und Presseprodukten mit 2,6 Milliarden Euro.

Die Mehrerlöse von sechs Milliarden Euro sollte der Staat aus Sicht des Grünen-Finanzexperten Thomas Gambke für Investitionen etwa in die Bildung und die Infrastruktur verwenden. "Wir haben derzeit eine einmalige Konstellation: Die Parteien der großen Koalition haben sich in der Vergangenheit für eine Reform ausgesprochen, und auch die große Mehrheit der Länder im Bundesrat ist dafür", sagte Gambke der Süddeutschen Zeitung. "Wenn wir diese Chance jetzt nicht nutzen, werden wir den Mehrwertsteuerdschungel niemals lichten."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: