Mehr Wohnraum:Ministerin will Lärmschutz wegen Wohnungsmangel lockern

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Eine Baustelle in Baden-Württemberg. Bis zu 350 000 neue Wohnungen sollen in Deutschland pro Jahr entstehen. (Foto: dpa)
  • Schätzungen zufolge stehen zwar 1,5 Millionen Wohnungen in Deutschland leer. Doch weil so viele Menschen in die Städte ziehen, müssen gleichzeitig etwa 350 000 Wohnungen neu entstehen. Jedes Jahr.
  • Um den Zuzug zu bewältigen soll auch das Baurecht reformiert werden. Wohn- und Industriegebiete könnten näher zusammenrücken.

Von Michael Bauchmüller, Berlin

Wenn die Stadt wächst, freut das den Bürgermeister. Einerseits. Zu Beginn des Jahrtausends etwa lebten in Münster 265 000 Menschen. 2014 überschritt die Stadt die Marke von 300 000 Einwohnern, und alle Prognosen sagen weiteren Zuwachs voraus. "Das Schöne ist, wir haben wieder mit Wachstum zu tun", sagt Oberbürgermeister Markus Lewe, ein CDU-Politiker. Nur werde langsam der Platz knapp. "Vor 20 Jahren hatten wir kein Geld, aber Flächen. Heute ist es umgekehrt." Die Flächen von einst sind längst großzügig mit Neubausiedlungen gepflastert. In der Stadt aber fehlen nun Wohnungen.

Das liegt nur zum kleinen Teil an den vielen Menschen, die derzeit in Deutschland Schutz suchen - sondern an der gewachsenen Attraktivität vieler Städte. "Die Binnenwanderung hat sich stärker entwickelt als gedacht", sagt Bundesbauministerin Barbara Hendricks (SPD). "Diese Entwicklung war auch für einige Experten überraschend." So kommt es, dass hierzulande Schätzungen zufolge zwar etwa 1,5 Millionen Wohnungen leerstehen, gleichzeitig aber etwa 350 000 Wohnungen neu entstehen müssen. Jedes Jahr. Denn die leer stehenden Wohnungen finden sich meist in Regionen, in denen es an Jobs und gutem Leben mangelt.

Wie sich das Problem beheben lässt, und zwar schnell, darüber beraten in diesen Tagen an die 700 Fachleute in Berlin. Im Bündnis "bezahlbares Wohnen und Bauen" wollen sie herausfinden, wie sich ganz schnell ganz viel Wohnraum schaffen lässt, und das preiswert. Angesichts der angespannten Immobilienmärkte in vielen Großstädten wirkt das wie die Quadratur des Kreises. "Bezahlbarer Wohnraum", sagt Münsters Oberbürgermeister Lewe, "gehört mitten in die Stadt rein."

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Nur - wohin da? Die Lösung heißt "Verdichtung". Wo bisher schon Stadt ist, soll noch mehr Stadt werden - durch die Aufstockung bestehender Gebäude oder die Füllung von Baulücken. "Durch Innenverdichtung erreichen wir, dass wir keine neuen Flächen versiegeln müssen", sagt Barbara Ettinger-Brinckmann, Präsidentin der Bundesarchitektenkammer. Auch senke sie die Erschließungskosten. Ziel seien "Quartiere der kurzen Wege", sagt auch Hendricks: mit dichterer Nachbarschaft von Wohnen und Arbeiten. Es ist die freundliche Umschreibung einer bisher ungeliebten Umgebung: Handwerksbetriebe und Kleingewerbe galten bislang nicht als die idealen Nachbarn, folglich bewirkten Lärm-Vorgaben, dass sich das potenzielle Bauland nebenan nicht als solches ausweisen ließ.

Ein neuer Gebietstyp im Baurecht soll nun dafür sorgen, dass das Nebeneinander leichter wird: das "urbane Gebiet". Hier sollen unter anderem schwächere Lärmschutz-Vorgaben gelten, die Kommunen können die entsprechenden Gebiete künftig ausweisen. "Es gibt Menschen, die setzen sich freiwillig an eine große Kreuzung ins Café", sagt Hendricks. Warum sollten sie dann nicht auch ins "urbane Gebiet" ziehen? "Wenn man dort Mieter wird, dann weiß man ja, was auf einen zukommt", sagt Hendricks.

Viele Betriebe arbeiteten heute ohnehin nicht mehr so laut wie früher, heißt es in ihrem Ministerium. Erst vor kurzem war auch die "Sportanlagenlärmschutzverordnung" gelockert worden, die das Nebeneinander lärmender Sportplätze mit Wohnhäusern regelt. Obendrein mische sich in den urbanen Gebieten die Bevölkerung besser, das erleichtere auch die Integration.

Die Immobilienwirtschaft will noch mehr

Doch nicht nur der Lärmschutz behindert die Nutzung freier Flächen - auch Auflagen etwa für den Einbau von Fahrstühlen. Die werden fällig, sobald ein Gebäude mehr als drei Geschosse hat - weshalb in der Vergangenheit viele Bauherren just über dem dritten Geschoss das Dach vorsahen. Viele Wohnungen aber könnten allein durch Aufstockung bestehender Gebäude entstehen. Zwar will auch der Bund nicht auf die Pflicht zum Aufzug verzichten. Wohl aber ließen sich die Einbauten standardisieren, wenn sich die Länder auf gemeinsame Baunutzungsordnungen verständigen könnten. Darin könnten sie Aufzugstypen festlegen, die sich für den nachträglichen Ein- oder Anbau eignen. Das Kalkül: Werden die Fahrstühle dann billiger, wächst auch die Bereitschaft zum vierten und fünften Geschoss. Auch durch den Verzicht auf obligatorische Autostellplätze könnte Bauen billiger werden.

Den Rest sollen steuerliche Vorteile für Bauherren per Sonderabschreibung, und ein abermals erhöhter Zuschuss des Bundes für den sozialen Wohnungsbau erledigen. Die Immobilienwirtschaft findet das alles richtig, hätte aber gern noch mehr: zum Beispiel eine Lockerung der Energiespar-Vorgaben. Da allerdings stoßen sie bei Hendricks auf taube Ohren. Sie sei schließlich nicht nur die Ministerin für den Bau, sondern auch die für die Umwelt.

© SZ vom 04.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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