Kostenloser Nahverkehr:Die freie Fahrt für alle - und ihre Gefahren

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Bus und Strassenbahn wie hier in Berlin kostenlos? Kann das funktionieren. (Foto: imago/Seeliger)

Die Bundesregierung erwägt einen kostenlosen Nahverkehr. Kommunen im In- und Ausland haben das bereits ausprobiert und ein Problem entdeckt: Das Konzept ist zu erfolgreich.

Von SZ-Autoren

Die deutschen Pioniere sitzen 80 Kilometer nördlich von Berlin, in Templin, Kurort, 16 000 Einwohner. Von 1997 bis 2003 war der öffentliche Nahverkehr der Kleinstadt für alle kostenlos. "Einiges hat bei uns funktioniert", sagt Ex-Bürgermeister Ulrich Schoeneich, 67. Im historischen Kern wollte die Stadt den Verkehr beruhigen. Weniger Abgase, weniger Lärm. "Wir haben alles umgekrempelt, damit der öffentliche Personennahverkehr, der ÖPNV, wieder interessant geworden ist", sagt Schoeneich. Linienausbau, neue Haltestellen und keine Fahrscheine mehr. Finanziert wurde das vor allem über eine Kurtaxe, die Templin als staatlich anerkannter Erholungsort erheben durfte.

Die Folgen waren frappierend: Innerhalb eines Jahres explodierten die Fahrgastzahlen, von 41 000 auf 350 000, bis 2001 sogar bis auf 615 000. Der Autoverkehr ging zurück, sagt Schoeneich, der Feinstaub war unter Kontrolle. Taugt Templin also als Vorbild für ganz Deutschland? Es habe nicht funktioniert, das System komplett kostenlos zu halten, sagt Schoeneich heute. Man habe die Templiner Bürger an der Finanzierung beteiligen müssen. Heute zahlen die Templiner 44 Euro für eine "Jahreskurkarte" und dürfen damit die Busse der Stadt nutzen. Detlef Tabbert, seit 2010 Bürgermeister, sieht im rasanten Fahrgastanstieg den Hauptgrund für das vorzeitige Ende des Experiments 2003. "Die Busse waren vor allem an regnerischen Tagen krachend voll", sagt er, die Stadt sei finanziell an Grenzen gestoßen.

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Lange war kostenloser Nahverkehr in Deutschland ein Thema für Exoten. Die Piratenpartei zog mit der Forderung in Wahlkämpfe. Nun kommt der Vorschlag von der Bundesregierung . "Free public transport" haben drei zuständige deutsche Bundesminister der EU-Kommission für Modellregionen in Aussicht gestellt. Im Kampf gegen zu hohe Stickoxid-Emissionen könne der kostenlose Nahverkehr "die Zahl der Privatautos senken", schreiben die geschäftsführenden Minister für Umwelt, Verkehr und das Kanzleramt.

Und schon ist die Debatte da. Städte und Verkehrsbetriebe warnen vor zu hohen Mehrkosten, in der Autobranche fürchtet man sinkende Absätze. Doch Koalitionspolitiker halten dagegen. "Der Vorschlag 'Nulltarif für Busse und Bahnen' ist eine kraftvolle Idee", sagt der SPD-Umweltpolitiker Carsten Träger. "Niemand will beim Kampf gegen die schlechte Luft in unseren Städten ein 'Weiter so'." Auch Umweltschützer sind angetan. "Endlich akzeptiert die Bundesregierung die zentrale Rolle der Öffis", sagt Greenpeace-Experte Niklas Schinerl. Die kostenfreie Fahrt dürfe nicht auf einige wenige Orte beschränkt bleiben. "Wir brauchen sie in ganz Deutschland." Auch bei der Bahn befürwortet man solche Tests. Man wisse dann endlich, welche Verlagerungen vom individuellen auf den öffentlichen Nahverkehr möglich sind, heißt es. Bislang fehle es da an Zahlen.

Zur Rush-Hour ist die U-Bahn schon heute übervölkert

Wie die Bundesregierung sich das genau vorstellt, bleibt in dem Papier offen. Sie führt dort fünf Modellstädte ins Feld, in denen Methoden erprobt werden sollen. Was sich in Bonn, Essen, Herrenberg, Reutlingen und Mannheim bewährt, könne dann auf andere Städte "ausgerollt" werden. In den fünf Städten allerdings ist die Überraschung nicht geringer als im Rest der Republik. Die Oberbürgermeister von Bonn und Essen etwa, Ashok-Alexander Sridharan und Thomas Kufen, hatten erst am Sonntag aus dem Kanzleramt von dem Experiment erfahren.

Die beiden CDU-Männer begrüßten das Ende allen Schwarzfahrens zwar allgemein, Kufen spricht von einer "sehr verlockenden Idee", zugleich aber ließen sie allerlei Bedenken erkennen. So sind die Busse und Bahnen, die durch Bonn und Essen rollen, in regionalen Verkehrsverbünden vernetzt. Niemand könne im Alleingang den Fahrpreis auf null setzen. Unisono verlangten beide Stadtoberhäupter, Berlin müsse die Kosten tragen. Allein in Essen rechnet man mit 100 Millionen Euro jährlich. Zudem graut den Essenern vor einem Ansturm zum Nulltarif. Zur Rushhour sind die Gänge zur U-Bahn schon heute schon übervölkert. Und ein Ausbau des Systems ist derzeit nicht drin. Essen ist, wie viele Ruhrgebietsstädte und das gesamte Land Nordrhein-Westfalen, überschuldet. Investitionen in die Infrastruktur wurden seit Jahren gestreckt. Gleisanlagen, Haltestellen sowie Bahnen und Busse sind veraltet. Falls der Nulltarif mehr Kunden anlockt, müssten dennoch neue Fahrzeuge her - und bis zu 35 Jahre alte Wagen dringend saniert werden.

ÖPNV statt Diesel?

Andernorts rennt der Bund offene Türen ein. Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer bittet die Bundesregierung in einem Brief um Aufnahme in das Projekt und verweist auf ein fertiges Konzept für einen kostenlosen ÖPNV. Seine Kalkulation: Es müssten neun Millionen Euro Fahrgeldeinnahmen im Jahr ersetzt werden. Derzeit würden jährlich 20 Millionen Fahrten mit dem ÖPNV gezählt. Fahren die Tübinger kostenlos, rechnet man mit einem Drittel mehr. Die Kapazität auszubauen, würde sechs Millionen Euro kosten. Die, glaubt man in Tübingen, ließen sich auch anders einnehmen.

So entspannt sieht man das in Berlin im kommunalen Spitzenverband nicht. Wenn der Bund einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr ins Gespräch bringt, müsse er auch die Finanzierung klären, heißt es beim Deutschen Städtetag. So ähnlich ist das auch aus Mannheim, Herrenberg und Reutlingen zu hören, den offiziellen Modellstädten aus dem Südwesten. Alle finden die Idee gut, vorausgesetzt, der Bund zahlt. Reutlingens parteilose Oberbürgermeisterin Barbara Bosch sagte, man habe bereits ähnliche Überlegungen angestellt - etwa Autobesitzern eine Jahreskarte für den ÖPNV zu gewähren, wenn sie ihre alten Dieselautos stilllegen. Wenn der Bund nun dafür geradestehe: umso besser.

Der Blick nach Polen und Estland lohnt sich

Wie es klappen kann, lässt sich noch am besten im Ausland studieren. Europas Spitzenreiter beim kostenlosen öffentlichen Nahverkehr ist Polen: Gleich 40 Städte und Gemeinden bieten ihren Einwohnern, teils auch Gästen, freien Einstieg. Tendenz: steigend. Allerdings sind die Vorreiter wie Jawor in Westpolen oder das Städtchen Kozienice im Osten ländliche Gemeinden oder Kleinstädte. Sie leiden stark unter Überalterung und Abwanderung in die Boomregionen um Warschau oder Krakau, Danzig, Posen oder Breslau oder gleich nach Deutschland. Der kostenlose Nahverkehr ist für Polens Kleinstädte ein Mittel im Überlebenskampf. Auch sind Busse und Bahnen hier nicht nur Alternative zum Auto, sondern auch zum Fahrrad oder Zufußgehen. Polens Großstädter zahlen dagegen weiter. Anders in Estlands Hauptstadt Tallinn: Dort ist der öffentliche Nahverkehr für alle Steuerzahler kostenlos. Nach Angaben der Stadtverwaltung haben sich seit Einführung des Bürgertickets 25 000 Esten umgemeldet. Sie versteuern nun in Tallinn und fahren umsonst. Unter dem Strich bleibe ein Plus, meldet die Verwaltung.

Von einem Experiment kann man im belgischen Hasselt schon nicht mehr sprechen. 16 Jahre lang waren die Busse des öffentlichen Nahverkehrs der 80 000-Einwohner-Stadt für alle kostenlos. Der damalige sozialdemokratische Bürgermeister wollte mit der Gratisaktion einen neuen Stadtring für Autos und Lkw verhindern; er wollte den Verkehr anderweitig in den Griff bekommen. Und das gelang. So stieg die Zahl der Bus-Fahrgäste in den ersten zehn Jahren des Gratis-Prinzips von täglich etwa 1000 auf 12 600. Auch die Wirtschaftskraft der Stadt profitierte: Es kamen immer mehr Menschen nach Hasselt zum Einkaufen. In der Innenstadt entstanden neue Arbeitsplätze. Der angenehme Effekt für die Umwelt: Der Autoverkehr wurde spürbar weniger. Trotz des Erfolges kam 2013 das Aus für das Gratis-Prinzip, es wurde auf Dauer einfach zu teuer. Nun fährt nur noch kostenlos, wer jünger als 19 oder älter als 65 Jahre ist.

Und die Pioniere in Templin? Ulrich Schoeneich hat noch eine Idee, wie man es besser machen könnte. Er findet, der Gesetzgeber müsse Kommunen ermöglichen, bei seinen Bürgern eine Umlage für den ÖPNV zu erheben: eine geringe Summe, die jeder zahlen könnte, auch sozial Schwache. Wenn das ginge, könne der kostenlose Nahverkehr funktionieren, sagt er. Auch bundesweit.

© SZ vom 15.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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