Argentinien:Das Gute-Laune-Land

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Die Politiker wechseln, die Probleme bleiben. Das ist die Botschaft dieses Plakats in Buenos Aires. (Foto: Marcos Brindicci / Reuters)

Mit Argentiniens Wirtschaft geht es aufwärts. Präsidentin Kirchner sieht ihr Land sogar schon auf dem gleichen Stand wie Deutschland. Doch der Aufschwung ist teuer erkauft.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Nur für den Fall, dass sich jemand Sorgen gemacht hat: Cristina Fernández de Kirchner, 62, geht es wieder besser. Das Jahr 2015 hat für die Präsidentin Argentiniens, gelinde gesagt, etwas unerfreulich begonnen. Zu sagen, sie hätte wegen des mysteriösen Todes des Staatsanwaltes Alberto Nisman wochenlang am Pranger gestanden, wäre nicht ganz korrekt. Stehen konnte sie ja nicht. Kirchner saß eher am Prager. Sie hatte sich am Knöchel verletzt und musste die schwierigste Phase ihrer Amtszeit größtenteils im Rollstuhl aushalten. Hunderttausende gingen im Februar auf die Straßen, einige hartnäckige Kirchner-Gegner träumten bereits von ihrem Rücktritt, andere von ihrer Verhaftung. So kann man sich täuschen.

Kirchners Popularitätswerte steigen wieder. Ob sich Nisman umgebracht hat oder ob er ermordet wurde, ist zwar weiterhin ungeklärt. Jene Anklageschrift gegen die Präsidentin, die der umstrittene Staatsanwalt kurz vor seinem Tod zu Papier gebracht hatte, ruht aber inzwischen bei den Akten, vermutlich zurecht. Kirchner ist derweil wieder blendend gelaunt und auf zwei Beinen in der ganzen Welt unterwegs. Besonders gerne trifft sie sich mit Wladimir Putin oder Xi Jinping, die Präsidenten Russlands und Chinas, ihre wichtigsten Geschäftspartner. Noch lieber schaut sie lediglich bei ihrem Landsmann im Vatikan vorbei. Am vergangenen Sonntag hat sie Papst Franziskus bereits zum fünften Mal besucht. Rekordverdächtige 90 Minuten lang wurde angeblich über dies und jenes geplaudert. Wie es war? "Ich fühle mich von innen erleuchtet", teilte Kirchner mit.

Derart inspiriert redete sie am nächsten Tag bei einer Konferenz der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation in Rom. Kirchner sprach vom "argentinischen Modell", von einer Vorbildfunktion im Kampf gegen Hunger und Ungleichheit, von einem gesunden Wirtschaftswachstum. Ihre Kernthese: Bei uns gibt es weniger Armut als in Deutschland oder Dänemark.

"Wir sind heute eine der egalitärsten Gesellschaften der Welt"

So mancher Zuhörer fragte sich, von welchem Land sie da eigentlich schwärmte? Von Argentinien? Dem mutmaßlichen Pleitestaat, über dem eben noch die Geier kreisten? Doch, doch, Kirchner kündigte einen argentinischen Getreide-Ernte-Rekord für 2015 an. Sie sagte, ihr Land könne zur Not 400 Millionen Menschen ernähren, das Zehnfache der eigenen Bevölkerung. Und: "Wir sind heute eine der egalitärsten Gesellschaften der Welt."

Egalitär auf geringem Niveau, sagen Spötter, von denen es in Buenos Aires wahrlich genug gibt. Sie vergleichen Argentinien nicht mit Deutschland oder Dänemark, sondern eher mit Venezuela oder Kuba. Vermutlich liegt die argentinische Wahrheit, wie so oft, auf halber Strecke zwischen zwei polemischen Lagern, die ihrerseits in mehr oder weniger extreme Lager aufgespalten sind.

Wer Kirchner aus Prinzip für eine böswillige Egomanin hält, was vermutlich die Hälfte der Bevölkerung tut, der findet allemal genügend Ansätze, um ihre protektionistische Politik zu verdammen. Gerade hat die Regierung wieder eine schwere Niederlage vor einem Bezirksgericht in New York einstecken müssen. Dort streitet sich das Land mit den US-amerikanischen Hedgefonds NML Capital und Aurelius seit Jahren um alte Anleiheschulden. Nach der argentinischen Staatspleite von 2001 hat ein Großteil der Gläubiger einem Schuldenschnitt um zwei Drittel zugestimmt. Die Fonds aber kauften einigen Gläubigern ausfallbedrohte Staatsanleihen zu einem Bruchteil des Nennwerts ab und klagten dann erfolgreich auf volle Rückzahlung. Der zuständige New Yorker Richter Thomas Griesa entschied, dass Argentinien zunächst die Forderungen der Hedgefonds über 1,3 Milliarden US-Dollar bedienen müsse, bevor es seine Schulden bei jenen Investoren bedienen dürfe, die sich auf einen Schnitt eingelassen hatten. Die Regierung Kirchner bezeichnet die US-Fonds als "Aasgeier". Und weil sie sich dem Urteil Griesas hartnäckig widersetzte, rutsche das Land im vergangenen Sommer in die technische Zahlungsunfähigkeit. Auf den internationalen Finanzmärkten wird es seither wie ein Aussätziger behandelt. An allen Ecken und Enden fehlen Devisen. Die Lage hat sich noch einmal zusätzlich verschärft, seit Griesa am vergangenen Freitag entschied, dass Argentinien neben den Hedgefonds 500 weitere bevorrechtigte Gläubiger auszahlen muss, die keinen Schuldenschnitt akzeptieren wollen - mit insgesamt 5,4 Milliarden Dollar.

Das argentinische Wirtschaftsministerium kündigte an, in Berufung zu gehen. Minister Axel Kicillof vermutet, dass die neu aufgekommenen Forderungen letztlich auf dieselbe Geierfamilie zurückgehen. "Sie verkleiden sich als neuen Fall in der Absicht, mehr Druck aufzubauen und den horrenden Gewinn, den ihnen Richter Griesa anbietet, zu multiplizieren", ließ er mitteilen. Die Regierung Kirchner versucht bislang vergeblich, die einst nach US-Recht ausgegeben Staatsanleihen dem Zugriff Griesas zu entziehen und sich mit den kooperativen Anleihehaltern nach argentinischen Gesetzen zu einigen. Man lehnt sich nicht weit aus dem Fenster, wenn man behauptet: Der Streit wird sich noch eine Weile hinziehen. Mindestens aber bis zum letzten Arbeitstag von Cristina Kirchner in der Casa Rosada. Im Oktober sind Präsidentschaftswahlen, sie darf nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten.

90 Minuten beim Papst: Die argentinische Präsidentin Cristina Kirchner. (Foto: Stefano Porta / dpa)

In der Zwischenzeit finden ihre Gegner selbstredend auch andere Themen, um gegen die Präsidentin und ihre peronistische Partei zu Felde zu ziehen. Die Opposition ist sich für keine Schlammschlacht zu schade. Die konservative Präsidentschaftskandidatin Elisa Carrio bezichtigt neuerdings sogar den Papst, Teil einer peronistischen Verschwörung zu sein. Franziskus habe mit seiner überlangen Audienz für Kirchner "einen schweren Fehler begangen", wetterte Carrio. Er habe sich damit in die Innenpolitik Argentiniens eingemischt.

Genau das wirft die Regierung wiederum streikenden Gewerkschaften vor, die unter Woche Straßen und Bahnhöfe blockiert hatten und damit den Verkehr im Großraum Buenos Aires nahezu lahmlegten. Es handele sich um einen politischen Streik, der Verwirrung stiften solle, behauptete Kabinettschef Aníbal Fernández. Dass es auch Leute gibt, die streiken, weil sie sich ernsthaft um ihre Existenz sorgen, kann sich in diesem zweifellos selbstgefälligen Kabinett offenbar niemand vorstellen.

Tatsächlich kann die Regierung Kirchner aber auch ein bisschen was vorweisen. Die Wirtschaftslage hat sich in den vergangenen Monaten zumindest halbwegs stabilisiert - nicht zuletzt dank Devisenkrediten aus China und Nahrungsmittelexporten nach Russland. Die Inflationsrate ist im Vergleich zum Vorjahr deutlich gesunken, sie liegt jetzt bei 29 Prozent. Im weltweiten Vergleich ist das immer noch unterirdisch, für argentinische Verhältnisse ist es ein Achtungserfolg. Die Regierung erhöht die Sozialausgaben und die Löhne steigen zumindest wieder im selben Tempo wie die Preise. Das Konsumklima ist so gut wie schon lange nicht mehr. Dass die Chinesen ihre über ein Jahr laufenden Kredite nicht aus Freundschaft verteilen, sondern zu stattlichen Zinsen, stört Kirchner herzlich wenig. Bis zur Wahl setzt sie auf staatliche subventionierte gute Laune.

Die lässt sich auch am argentinischen Börsenindex Merval ablesen. Der hat seit Jahresbeginn um fast 24 Prozent zugelegt. Wenn nicht alles täuscht, setzen viele Investoren bereits auf einen radikalen Kurswechsel der argentinischen Wirtschaftspolitik nach den Präsidentschaftswahlen. Sie wetten auf den Aufschwung, ganz gleich ob einer der Oppositionskandidaten oder der eher gemäßigte Peronist Daniel Scioli gewinnt. Den Anlegern scheint alles recht zu sein, was nicht Kirchner heißt. Die Pointe am Ende der kirchneristischen Ära aber ist, dass unter anderem diese Anleger mit ihrem Geld dafür sorgen, dass die Präsidentin doch noch eine relativ vergnügliche Abschiedstournee erleben darf.

© SZ vom 13.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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