Vom Schwimmerbecken zur Luftperlenliege:Das Bad ist jetzt frei

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Der Entwurf für das Frei- und Seebad Fischbach am Bodenseeufer stammt von Sacker Architekten. Im Sommer 2017 soll das Projekt fertig werden. (Foto: Sacker Architekten)

Drei Wasserbecken, ein Sprungturm, Kiosk und Liegewiese: Reicht das heute noch? Zu Besuch bei einem Sehnsuchtsort im Wandel.

Von Gerhard Matzig

Neun Uhr. Das Gras ist so akkurat getrimmt, als käme es vom Friseur. Noch ist es feucht vom Tau. Träge ruhen die Schatten der großen Bäume darauf. Wenig später werden die Schatten an diesem heißen Juli-Tag in Münchens ältestem Freibad, es ist das 1847 eröffnete Schyrenbad, dahinschmelzen. Dann ist es Mittag, High Noon im Freibad, und an der Claude-Lorrain-Straße 24 wird es nicht mehr nach Gras, Tau und etwas Chlor riechen. Sondern nach Frittenfett und Sonnenmilch, nach Trotzdem-Sonnenbrand und Kaugummiresten, die sich mit dem weichen Asphalt der Wege und den eigenen nackten Fersen zu einem Amalgam verbinden, zu Geruch, Klang und jener geradezu proustschen Erinnerung, die untrennbar mit einem magischen Ort verbunden ist. Mit dem Freibad.

Mit dem Freibad, das zwar erst nach Gras und Fritten, später aber, wenn es ausnahmsweise ("nur an heißen Tagen") erst um 20 Uhr schließt, nach einem ganz besonderen Glück riecht. Nach dem sonnensatten Glück nasser Badehosen zwischen Bayern-1-Gedudel (Kiosk-Nähe) und Gettoblaster-Wahnsinn (Knutschwiese), nach dem Glück zerlesener Schundromane und abgegessener Kinderarmbanduhren, die es pastellfarbig gelb, blau und orange sowie aus Zucker, als "Candywatch", immer noch zu kaufen gibt am Kiosk. Herrlicherweise. Abgesehen davon besteht das Glück auch aus der Das-Reinspringen-vom-Beckenrand-ist-verboten-Durchsage, aus sehr vielen blauen Kacheln und einigen rotgesichtigen Vätern, die am Rande des Planschbeckens und der Erschöpfung diverse Schwimmhilfen und noch mehr Gummitiere aufblasen, während sich die dazugehörigen, besser erhaltenen Mütter der Sonne entgegenrecken, als wollten sie lieber Sonnenblumen sein als Erziehungsberechtigte.

Vor allem aber ist das Glück im Freibad das der Erinnerung. An den Moment, als man das Freischwimmer-Abzeichen an die Badehose genäht bekommt. So ein Stolz. Als man endlich! endlich! genug Mumm für den Sprung vom Dreier hat. Als man niemals! niemals! genug Mumm für Moni hat - bis ein anderer auf ihrem Handtuch liegt. Der Typ vom Fünf-Meter-Brett. Ein breitschultriger Albtraum mit Fahrtenschwimmerabzeichen.

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Die Wellnessisierung der Freibäder

Sprungtürme gibt es übrigens keine im Schyrenbad, das dennoch eine Sehnsuchtswelt ist, die von gestern erzählt, mit einem Zeh aber schon im Morgen steht. Weshalb das Bad nun immerhin eine extrabreite Rutsche hat. Und allerlei Klettergerät. Dazu einen Planschbereich, der so benettonbunt aussieht, als habe ein Riese die Spielzeugkiste darüber entleert. Außerdem gibt es noch ein paar Blubber-Düsen und Unterwasserliegen dort, wo früher nur das Schild "Nichtschwimmer" zu sehen war. Vor ein paar Jahren wurde das Schyrenbad saniert und zugleich ein bisschen in Richtung Wellness frisiert.

Das geschieht derzeit an vielen Orten in Deutschland. Die Wellnessisierung der Freibäder ist eine große Killerwelle. Es geht ja nicht nur um Magie, sondern vor allem auch ums Geld, also um die Moden der Gesellschaft. Weshalb man sich nun fragen könnte, ob Freibäder, die im Grunde nur aus Fahrradstellplätzen, Umkleiden, Sanitärbereichen, Fußdesinfektionsstellen und drei Becken (Planschen, Nichtschwimmer, Sportler) bestehen, nicht dringend unter Denkmalschutz zu stellen wären. Schon zum Schutz der eigenen, nostalgisch verklärten Erinnerungen. Es gäbe dann zum Beispiel das Freibad im Stadtpark von Deggendorf noch. Das Erlebnisbad "Elypso" in Deggendorf gäbe es dann zum Beispiel nicht.

Ja, gut, das Leben ist halt kein Museum. Schade, sehr schade.

Das Glück im Freibad ist übrigens ein kleines Glück. Das Freibad ist schließlich kein Privat-Pool und auch kein Ort am Meer. Es ist etwas Selbstverständliches. Etwas wie Schule, Rathaus, Kirche oder Wirtshaus. Dazu ist es Wasserbecken, Liegewiese, Tischtennisplatte, Mumm für den Dreier, ein "Capri"-Eis, ein Geplantsche und Geschnatter in den Ohren, das sich anhört wie ein zur Sinfonie gewordenes Freibad-Wimmelbild von Ali Mitgutsch; es ist ein rot-weißer Schwimmreifen von der Fina-Tankstelle (früher) und (später): Moni im weiß-roten Bikini. Was braucht man mehr? Außer hitzefrei und die Absenz des Fahrtenschwimmer-Idioten?

"Eine ganze Menge." Sagt Rudolf Wienands. "Vor allem gilt in der heutigen Bäder-Architektur der Satz ,less is more' nicht mehr." Weniger ist nicht mehr? "Nein", sagt Wienands, der als Architekt in Deutschland, gäbe es denn so etwas, so etwas wäre wie ein Bäder-Papst, "nein, mehr ist mehr. Es geht um Merkmalsreichtum." Das heißt: Massagedüsen, Luftperlenliegen, Sprudelbecken, Nackendusche, Wellenmaschine, Strömungskanal, Klettergerüste, Breitwellenrutschen . . . und dazu statt rechteckig genormter 25-Meter-Becken (zu schweigen vom früheren, wettkampftauglichen 50-Meter-Becken) organisch-phantasievoll ausformulierte Rundbecken, weich modulierte Liegelandschaften - eine einzige Feier von Farbe und Form, von Materialien und Konstruktionen. Freibäder haben heute mehr mit Hundertwasser als mit dem Bauhaus gemeinsam.

Wienands ist emeritierter Professor der Technischen Universität München und 75-jähriger Chef des international im Bäderbau erfolgreichen Büros Wienands Plan. Aussehen tut er wie 50. Braungebrannt ist er obendrein - kein Wunder eigentlich, wenn man eine bekannte Größe im Bäder-Business ist. Gerade kommt er aus Dubai - bald muss er nach Russland: Bäder, "alle wollen Bäder". Seit er vor Jahrzehnten in Aalen eines der ersten prototypischen Erlebnisbäder erbaut hat, ist er gut im Geschäft. In Jekaterinburg soll er für 200 Millionen Euro ein gigantisches Thermalbad errichten. Befragt nach den aktuellen Tendenzen im Freibad-Reich erklärt Wienands: "Reine Freibäder werden eigentlich kaum mehr gebaut. Es gibt dafür, da sie viel wirtschaftlicher sind, Kombi-Bäder. Unabhängig vom Wetter."

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Sehen und gesehen werden - eine der wenigen Konstanten

Wienands glaubt außerdem, dass es in Zukunft wieder mehr Flussbäder geben werde - überhaupt sei die Nachfrage nach "natürlicheren" Bädern derzeit groß. Energieeffizienz sei logischerweise auch ein großes Thema. Holz spiele zunehmend eine Rolle, dazu Holzdecks, Sitzstufen . . . das Ende der Liegewiese ist nah. Und die Rutschen verdrängen die Türme. Detlef Sacker vom Büro Sacker Architekten ("Ihr Architekt für Freibäder"), bestätigt die zunehmend differenzierte Raumabfolge der Kombibäder: "Durch die erwünschten Attraktionen" - das entspricht dem Wienandschen Merkmalsreichtum - "wird das Raumgefüge komplexer. Das gilt nicht nur für die Becken, sondern auch für den Freibereich, der für ganz unterschiedliche Nutzergruppen konzipiert wird." Und: "Der Wasserspiegel in den Becken", so der 56-Jährige Sacker, "muss unbedingt bündig sein, ebenengleich." Warum? "Sehen und gesehen werden. Es geht um den ungestörten Blickkontakt zwischen den Leuten im Wasser und jenen draußen." Sehen und gesehen werden: Wenigstens diese altehrwürdige Freibad-Tradition wird offenbar auch heute noch gepflegt. Sehr schön.

Das Freibad ist aber auch dann gut für Geschichten, wenn das Schwimmen im offenbar kaum mehr finanzierbaren 50-Meter-Becken dem Planschen im 12,50-Meter-Erlebniswellnessareal weicht. Wobei es auch ein Opfer dieser Entwicklung gibt: Immer weniger Kinder können schwimmen. Experten machen dafür auch den Niedergang der Sportbäder bei gleichzeitigem Boom der Erlebnisbäder verantwortlich. Früher ging man schwimmen, heute geht der Trend zum Erlebnis. Obwohl: Im Grunde ist die Disziplin Sehen und gesehen werden auch bei jenen durchtrainierten Senioren angesagt, die immer die ersten sind, um - bewehrt mit Schwimmbrille, Nasenklemme und einem außerordentlich bemerkenswerten Butterfly-Stil - ihre Bahnen zu markieren.

Das Freibad - ein verblasster Mythos

Was vom Freibad in jedem Fall bleibt, ist große Literatur. Nicht nur deshalb, weil Max Frisch, hauptberuflich später ein Meister des Satzbaus, zuvor auch ein Architekt des Hochbaus war. 1943 gewann er den Architekturwettbewerb der Stadt Zürich zum Bau des Freibads Letzigraben. Dem lag und liegt es fern, ein Spaßbad zu sein. Es steht unter Denkmalschutz. Großes Kino auch, wenn Georges Simenon seine grandiose Erfindung, den Kommissar Maigret, in ein Freibad zum Showdown mit dem Mörder führt. Und wenn Die Ärzte singen "Paule heißt er - ist Bademeister / Im Schwimmbad an der Ecke": Dann ist das mindestens so große Kunst wie die von Werner Enke, der den Tag als Schlagertexter im Freibad verbringt. "Etwas abgeschlafft" natürlich. "Zur Sache, Schätzchen" hieß der Film. Dass auch Horst Buchholz als "deutscher James Dean" einen großen Auftritt in dem wunderbaren Bad-Movie "Die Halbstarken" hat: geschenkt. Die Aquaparks oder Elypsos taugen kaum als Songtexte oder Filmbühnen. Sie sind zu real in ihrer Fiktionalität, weshalb die Städte immer einen draufsetzen. In Rüdesheim wird im Freibad das Fischerstechen der Sugarbabes geboten, in Töging das Piratenfest, in Schwelm ein Salsakurs und in Sassenberg: "Nachtschwimmen".

Attraktionen! Merkmalsreichtum! Event! Wo ist er nur hin, der schlichte Triumph vom Dreimeterbrett? Und wo ist Moni? Das Freibad ist ein verblasster Mythos - allerdings kann man auch als Nichtschwimmer auf einer dieser neuen Luftperlenliegen davon träumen. Etwas abgeschlafft vielleicht.

© SZ vom 25.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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