Modedesign:Echter Streetstyle

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Das soziale Modelabel People Berlin stellt im Herbst 2016 eine neue Kollektion vor. (Foto: People Berlin)

Manchen von ihnen müssen die Designer Ayleen Meissner und Eva Sichelstiehl erst einmal zeigen, wie man eine Schere hält: Sie machen gemeinsam mit Jugendlichen von der Straße Mode. Ein Atelier-Besuch.

Reportage von Verena Mayer

Die Kollektion muss stehen und zwar bald. Im Atelier rattern die Nähmaschinen, Bügeleisen dampfen. Dazwischen wuseln Leute hin und her, eine Designerin reißt rotorange Teile aus Jersey von einem Kleiderbügel und ruft, dass die Abnäher fehlen. Eine andere guckt auf dem iPad Setcards durch, in einer Woche ist Fotoshooting, und sie haben noch kein Model. Kurz: Hier geht es zu wie bei jedem Modelabel, das eine neue Kollektion herausbringt. Hektisch, aber es gibt einen Plan.

Und doch ist alles ungewöhnlich. Denn die Leute, die hier am Werk sind, haben mit der Modebranche ungefähr so viel zu tun wie ein U-Bahn-Musiker mit der Philharmonie. Es sind Jugendliche, die abhängig sind von Drogen oder Alkohol. Die Gewalt oder Missbrauch erlebt haben, irgendwo abgehauen oder eines Tages auf der Straße gelandet sind. Wo sie ohne Mode wohl immer noch wären.

Ein Backsteingebäude in Berlin-Lichtenberg. S-Bahn-Brücken, Brachland, gesichtslose Wohnbauten, die Modemetropole, als die sich die Hauptstadt während der Fashionweek der Welt präsentiert, ist weit entfernt. Der Backsteinbau heißt "Drugstop" und ist eine Einrichtung, in der sich Jugendliche von der Straße ausruhen, duschen, beschäftigen sollen.

Die Designs sind so wichtig wie die Geschichten dahinter

Auf einem Schild steht: "Wir beklauen uns nicht, wir konsumieren keine Drogen", langsam trudeln sie alle ein, Pascal, Kevin, Twix, Zecke, Oma, Flocke, Marcel, Melanie, Kati. Man sieht blutunterlaufene Augen, Arme mit Einstichen, Hände, auf denen Zigaretten ausgedrückt wurden. Die Jugendlichen lassen sich auf die Stühle fallen, greifen nach einem Topf Nudeln. Für manche ist es die erste warme Mahlzeit seit Tagen.

Doch wenn man eine Treppe hinabsteigt, ist man in einer anderen Welt. Zwischen Schneiderpuppen, Webrahmen, Knopfschachteln, Maßbändern, Garnrollen, Nadelkissen, raschelnden Kleidersäcken, Skizzen. Und erst die Stoffe: helles Leinen und dunkler Tweed, Tüll und schwerer Plüsch.

Für das Label erarbeiten Designer zusammen mit Jugendlichen mit Suchthintergrund oder psychischer Erkrankung eine Kollektion. (Foto: People Berlin)

Ayleen Meissner und Eva Sichelstiel, beide in Schwarz gekleidet, sind die verantwortlichen Designerinnen. 32 und 29, und sie gehören einer jungen Generation von Modeschöpfern an, denen Designs genauso wichtig sind wie die Geschichten dahinter und die Bedingungen, unter denen sie entstehen. Die finden, dass Mode alles sein kann und daher auch alle einschließen soll. 2015 haben sie dann zusammen mit Straßenkindern ein Label aufgezogen. "People" haben sie es genannt, Menschen.

Mode von Menschen, die nichts mit Mode am Hut haben

Melanie ist 18, sie trägt einen schwarzen Schlabberpulli und auch drinnen Schal. Keiner soll die Verletzungen sehen, die ihr zugefügt wurden und die sich selbst zufügt. Melanie heißt nicht wirklich Melanie, wie die meisten hier will sie so wenig wie möglich von sich preisgeben. Nur das: Sie ist in einem Heim aufgewachsen, bei ihrer Mutter konnte sie nicht sein, die hatte selbst genug Probleme. Melanie rollt Stoff für ein Top auf, das sie entworfen hat. Weit, schwarz und mit vielen Trägern, die ein Muster aus Schnüren und Bändern ergeben.

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Mode von Leuten, die nichts mit Mode am Hut haben. Das klingt erst mal stark nach Arbeitsbeschaffungsmaßnahme oder Kunsttherapie. Oder ist es eine weitere Facette einer Industrie, die immer auf der Suche nach etwas Neuem, nach frischen Gesichtern ist? Und was für Mode kann dabei überhaupt herauskommen?

April 2016, die ersten Arbeitstage im Studio. Die Designerinnen verteilen Stifte und Papier wie Kindergärtnerinnen zur Bastelstunde. Brainstorming, alle sollen ihre schönsten Träume beschreiben. Die Jugendlichen gucken an die Wand oder nuscheln etwas. Na gut, wie sehen ihre Albträume aus? Plötzlich beginnen alle zu malen. Zacken, Schatten, böse Augen, gewalttätige Monster, die Papierbögen füllen sich mit Farben und Formen. Als würde von irgendwo tief drinnen etwas hervorbrechen.

Ein Designteil namens "Bonnie und Kleid"

Marcel hat schon bei einer früheren Kollektion mitgemacht, damals kam er gerade aus dem Gefängnis. Er erzählt eine typische Geschichte. Schule geschmissen, kein Geld, Obdachlosigkeit, und irgendwann hatte er so viele Anzeigen wegen Schwarzfahrens, dass er für zwei Monate in den Knast musste. "Ich habe nie etwas geschafft außer den Führerschein." Und ein Designteil, das er "Bonnie und Kleid" nannte. Es war das erste Mal im Leben, dass Marcel etwas zu Ende gebracht hat. "Und das wurde verkauft, Alter, für 300 Euro", sagt Marcel. Man weiß nicht, was ihn mehr erstaunt. Der Preis oder dass jemand etwas von ihm haben wollte.

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Melanie ist davon noch weit entfernt. Es ist jetzt Juni, sie versucht, mit einem Markierstift das Schnittmuster für ihr Top auf Stoff zu bringen. Auf dem Tisch liegt Leinenstoff für einen Zweiteiler. Abstrakte Formen, Royalblau auf Weiß, die aussehen wie skandinavisches Design. Es sind aber die Albtraum-Zeichnungen der Jugendlichen, die auf Stoff gedruckt wurden.

Mädchen sitzen am Webrahmen, verarbeiten bunte Fäden zu Flicken, die später ein Oberteil und eine Dreiviertelhose ergeben sollen. Eine sagt, dass sich am Wochenende auf der Straße welche halb tot geprügelt haben, eine andere erzählt vom Stress mit ihrem Freund, der keine 19 ist und schon Vater. Sie webt ein rotes Herz und Wellen wie am Meer, Stoff ihrer Träume.

Melanie trägt ihr weites schwarzes Shirt, der Schal wurde ihr geklaut. Am Hals sieht man blutverkrustete Spuren vom Ritzen. Warum ist sie hier? Melanie zuckt mit den Achseln. "Weil ich sonst nichts habe." Eine Linie verrutscht. Melanie sagt, sie könne das nicht, beginnt zu weinen, rennt hinaus. Als sie wiederkommt, gibt Sichelstiel ihr ein Schneiderlineal, das "Vater und Sohn" heißt, und führt Melanies Hand über den Stoff. Manchen Jugendlichen mussten die Designerinnen erst mal erklären, wie man eine Schere hält.

Die beiden haben in Pforzheim Mode studiert und einige Jahre in der Herstellung und im Design gearbeitet. Irgendwann waren sie die Branche leid, sagt Meissner, die Parallelwelt, das viele Geld, "und alles ist eine Kopie der Kopie der Kopie". Sie gingen nach Berlin und taten sich mit dem Verein "Karuna" zusammen, der Wohngruppen, Schlafplätze und eine Schule für obdachlose Jugendliche betreibt. Einfach sei es nicht, sagt Sichelstiel. Die meisten Jugendlichen hatten noch nie mit Kleidung außerhalb von Billigketten zu tun, viele machen nur mit, weil ein Amt sie dazu verdonnert hat.

Eine preisgekrönte erste Kollektion

Immer wieder gibt es Stress, einmal haut einer vor Wut beim gemeinsamen Mittagessen so fest auf den Tisch, dass die Gläser umfallen. Ein anderer trampelt draußen über ein Autodach, und die Polizei muss kommen. Vor allem aber haben Meissner und Sichelstiel Ansprüche. "Wir sind keine Sozialarbeiter, wir wollen in der Branche bestehen." Und die interessiere sich nicht dafür, wer die schlimmste Kindheit oder das größte Elend hinter sich hat. Sondern nur für das Produkt, das am Ende herauskommt. Wie ungewöhnlich eine Idee ist und wie kreativ das Design.

Ungewöhnlich sind die Entwürfe von "People" schon mal. Die erste Kollektion erhielt im vergangenen Jahr den Preis der Bundesregierung für Kulturelle Bildung und besteht aus lauter Dingen, die anders sind, als sie sein sollen. Eine Bluse hat nur einen halben Kragen, ein Sweater dafür eine zweite Halsaussparung, durch die sich entweder ein Arm stecken lässt oder der Kopf einer weiteren Person.

Und da ist die Bikerjacke, die auf den ersten Blick ungewöhnlich zart und elegant wirkt. Auf den zweiten Blick erkennt man, dass sie aus lauter Schildchen zusammengesetzt ist, die sonst in Kleidungsstücke eingenäht werden. Die Labels, die normalerweise für eine Marke, einen Wert stehen, werden als das sichtbar, was sie sind: kleine Fetzchen Textil, ein Stoff von vielen.

Es ist Hochsommer geworden im Backsteingebäude in Lichtenberg. Draußen fläzen die Jugendlichen in der Sonne oder tollen mit ihren Hunden herum, drinnen muss alles auf einmal fertig werden. Hier fehlt eine Raffung, dort braucht es eine neue Tasche, ins weiße Kleid muss noch eine französische Naht gesteppt werden. An der Wand hängt eine meterlange To-Do-Liste, alle rennen durch die Gegend.

Am eigenen Lebensentwurf schneidern

Melanie ist jetzt immer die Erste im Atelier, sie will es schaffen. Auf ihrem weiten schwarzen T-Shirt ist eine Tasche in Form eines karierten Quadrats. Melanie hat sie selbst aufgenäht, sie hat eine alte Tischdecke genommen und ein Stück davon ausgeschnitten. Sie erzählt, dass sie sich für einen Ausbildungsplatz beworben habe, an einem Oberstufenzentrum für Bekleidung und Mode, es sehe gut für sie aus. Mode auch als Möglichkeit, am eigenen Lebensentwurf zu schneidern.

Die beiden Designerinnen gucken indessen Fotos von dem Pop-Up-Store durch, in dem die Kollektion verkauft werden soll. In Berlin-Mitte, dort wo die Hauptstadt genauso ist, wie man sie sich vorstellt. Englisch sprechende Szeneleute, Bars mit komplizierter Elektromusik, Galerien, bei denen man nicht weiß, ob sie noch etwas verkaufen oder schon ein Filmset sind.

Das Bikinioberteil, mit dem man nicht baden kann

Dazwischen der Laden, hell, schlicht, und jedes Kleidungsstück darin eine Kreation, die sich selbst infrage stellt. Das steife Anzughemd, das aber weite Manschetten hat und keinen Kragen. Das dunkelblaue Bikinioberteil, mit dem man nicht baden kann, weil es auf ein langärmeliges Oberteil aufgestickt ist. Das kleine Schwarze, von dem die Innentaschen außen wie riesige Beutel herabhängen.

Das japanische Modelabel Comme des Garçons kommt einem in den Sinn. Dessen Gründerin Rei Kawakubo machte in den frühen Achtzigerjahren Löcher in Kleider, zerfetzte Stoffstreifen oder legte sie in dicken Schichten übereinander, um die Silhouette des Trägers infrage zu stellen und damit seinen sozialen Status. Mode, die gut ist, weil sie immer auch mit den Vorstellungen von Mode brechen will. Und das wäre wahrscheinlich der größte Erfolg für das Label von der Straße. Wenn es sich in der Branche etablieren kann, einfach deswegen, weil es zeitgemäß ist. Mag das bewusst Unperfekte an den Designs auch erst aus den Brüchen in den Leben der Modeschöpfer entstanden sein. Aus den Ängsten und Träumen, die hier zum Stoff wurden.

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Von Dennis Braatz und Silke Wichert

Der Shop ist geöffnet vom 29.8. bis 10.9. 2016 von 12 bis 20 Uhr, Berlin, Torstraße 161.

© SZ vom 27.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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