Fashionspießer zu nackten Bäuchen:Freiheit für den Solarplexus

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Oben bauchfrei, unten beinfrei: Vogue-Modechefin Anna Dello Russo auf der Haute-Couture-Schau von Dior. Für Vollbild bitte Bild anklicken. (Foto: Getty Images)

Bauchfrei ist in, ist es eigentlich immer. Die öffentliche Nabelschau wandert nur - derzeit nach oben. Knapp 30 Jahre nach Madonnas "Virgin-Look" liegt bei den Frauen wieder der Oberbauch frei. Das einzig Gute daran ist, dass Hüftspeck und Lovehandles so im Verborgenen bleiben.

Von Violetta Simon

Und wir dachten, wir hätten das hinter uns. 1985 bescherte uns Berufs-Exhibitionistin Madonna den Trend "Spitze und bauchfrei". Dazu musste sie noch nicht einmal ihren Bauchnabel freilegen, denn: Zu sehen war damals nur der Bereich oberhalb der Taille, zwischen Strumpfhosenbündchen und Spitzen-BH. Es folgten weitere Bauchfrei-Interpretationen durch die Spice Girls, Britney Spears und Jennifer Lopez. Sie alle hatten sich nicht entmutigen lassen von Demi Moores entblößtem Babybauch auf der Vanity Fair, der kurz zuvor für kollektive Schnappatmung gesorgt hatte.

Für die entsprechende Abwechslung sorgte dabei die unermüdliche Modeindustrie. Von irgendetwas müssen Designer schließlich leben. Bemerkenswert daran ist, dass die Nabelschau dabei weniger einen Wandel als eher eine Wanderung vollzog, und zwar gen Süden: Die bauchfreie Zone sank immer tiefer - und riss dabei die Hose mit. So lange, bis sich die Tattoo-Industrie in der frei gewordenen Marktlücke im Nierenbereich einrichtete und dort das Arschgeweih platzierte. Und weil auf der Vorderseite noch Platz war, nutzte die Piercing-Fraktion die Gelegenheit und verpasste dem Nabel der Welt ein paar Glitzersteinchen und Ringe.

Jedes Mal, wenn wir die Hoffnung hegten, der Nacktbauch sei endlich Geschichte, tauchte er in einer neuen Variante wieder auf. Dabei beschränkte er sich nicht auf durchtrainierte Sixpacks, sondern ging immer mehr in die Breite: Dank des publikumswirksamen und schüttelfreudigen Einsatzes von Sängerin Shakira fühlte sich die Frauenwelt dazu ermutigt, Speckgürtel und Hüftgold in seiner gesamten Fülle freizulegen. Selten erwies sich ein Trend so schonungslos, nicht das kleinste Pölsterchen blieb geheim.

Es soll ja Menschen geben, die den Eindruck haben, dass junge Frauen heutzutage unverhältnismäßig viel Hüftspeck mit sich herumtragen, selbst die schlanken. Da fragt man sich natürlich: Warum dann ausgerechnet bauchfrei? Eine nicht belegte Theorie besagt indes, dass es genau andersherum ist. Nur weil der Körper an dieser Stelle permanent unbedeckt und ausgekühlt sei, bilde er dort besonders ausgeprägte Fettpolster.

Bevor sich dazu weitere abstruse Ideen entwickeln konnten, verschwanden die Lovehandles auch schon wieder unter wärmende Hosen und Röcken: Seit Nabel-Piercing und Hüft-Tattoo als prollig gelten, wandert deren Bund zurück Richtung Taille.

Doch der Bauch, er drängt weiter ins Freie, lässt sich nicht gänzlich wegsperren. Wozu hat man schließlich die Wahl zwischen oberhalb und unterhalb des Nabels? Und so haben die Designer das Sichtfenster kurzerhand wieder eine Etage höher versetzt, indem sie sich an den Shirts vergriffen - schnipp und weg mit dem überflüssigen Stoff. Heute, fast 30 Jahre nach Madonnas "Virgin-Look", blicken wir den Frauen also wieder auf den Solarplexus.

Das sieht ein bisschen aus, als hätte das Bündchen den Saum der Bluse verjagt. Und in gewisser Weise ist es ja auch so. Bestes Beispiel: Vogue-Modechefin Anna Dello Russo, die kürzlich ihren sonnengegerbten Oberbauch auf der Haute Couture Schau von Dior präsentierte. Zu diesem Zweck musste das weiße Blüschen dem aufstrebenden bodenlangen Flamenco-Röckchen Platz machen. Übrig blieb ein kleines weißes Etwas, das in seiner Form an einen Papierhut oder eine Filtertüte erinnert. Besonders bitter: Der Solarplexus der 51-Jährigen teilte sich die Aufmerksamkeit mit zwei dünnen Beinchen, die einem weiteren Phänomen zum Opfer fielen: dem publikumswirksamen Beinschlitz. Wenn man sich von diesem Anblick erholt hatte, konnte man immerhin die Erkenntnis gewinnen, dass die Jagd des Bündchens auf den Saum in Wahrheit ein anderes Opfer hat: den guten Geschmack.

Einen Vorteil hat der oberbauchfreie Trend indes: Oberhalb des Nabels herrscht weitgehend Demokratie. Dort oben fragt niemand nach Hüftgold, Schüttelspeck und Lovehandels - die liegen tiefer, unter der Hose des Schweigens. Hat da was gechlackert oder gewabbelt? Nö, alles perfekt.

Hoffen wir, dass das jetzt erst einmal so bleibt. Wenigstens lange genug, bis der Speck von den Hüften geschmolzen ist und die Arschgeweihe auf wundersame Weise verschwunden sind. Dann sind wir bereit für die nächste Wanderung. Richtung Süden.

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:Vokuhila-Mode und andere Stilunfälle

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