Krawatten:Politiker oben ohne

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Immer häufiger ohne Krawatte unterwegs: Innenminister Horst Seehofer (CSU) und Alexander Dobrindt (CSU-Landesgruppenchef). (Foto: Christoph Stache/AFP)

Die politische Hektik der letzten Zeit hat ein besonders bedauerliches Opfer gefordert: die Krawatte. Was sagt das über das Selbstverständnis der Abgeordneten?

Von Bernhard Roetzel

Am 5. Juli 2018 traten Andrea Nahles, Horst Seehofer, Olaf Scholz und Alexander Dobrindt um zehn Uhr am Vormittag nach der Sitzung des Koalitionsausschusses in Berlin vor die Kameras. Die Herren trugen dunkle Anzüge, weiße Hemden, aber keine Krawatten. War es so heiß? Die Außentemperaturen waren an dem Tag hoch, doch verhandelt wurde in einem klimatisierten Raum. Warum also das offene Hemd? Was ist mit der Krawatte passiert, die stets fester Bestandteil der politischen Elite war?

Kleidung ist eine Sprache. Sie sagt viel über uns aus und verrät einiges. Der Textilunternehmer und Kunstsammler Thomas Rusche stellte neulich in einem Interview fest, dass wir mit unserer Kleidung zu sehr viel mehr Menschen sprechen als mit unseren Worten. Was sagen also altgediente Krawattenträger wie Horst Seehofer oder Olaf Scholz, wenn sie auf einmal den Binder weglassen und der Kragen ihres Hemdes beinahe fahrlässig offen steht - noch dazu in so einem entscheidenden Moment des politischen Jahres?

Wer die Krawatte ablegt, ringt symbolisch nach Luft

Eine mögliche Botschaft wäre natürlich: Erschöpfung. Es waren zähe Verhandlungen, und wer die Krawatte auszieht, ringt symbolisch nach Luft. Wenn die Etikette vernachlässigt wird, geht es um wirklich Wichtiges, auch das ließe sich interpretieren. Genausogut könnte man aber auch einen langsamen Verfall der Sitten daran festmachen, den der eine oder andere ja ohnehin im jüngeren Politikbetrieb schon bemerkt hat.

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Bis vor wenigen Jahren haben deutsche Politiker bei der Arbeit grundsätzlich Krawatte getragen. Nur bei Reden vor Gewerkschaftern wurde sie traditionell weggelassen und vielleicht beim ZDF-Sommerinterview. Viele Urgrüne trugen ursprünglich keine Krawatte, in der rot-grünen Regierungszeit setzte sich aber auch bei den Alternativen der Binder durch, Joschka Fischer trug dann sogar Anzüge mit Weste. Als Alexis Tsipras 2015 ohne Krawatte Ministerpräsident wurde, war das ein Thema für die Weltpresse. Den Dresscode der Politiker hat Tsipras aber nicht beeinflusst. Trudeau, Kurz, Macron - auch die jüngeren Staatschefs bleiben beim traditionellen Look.

Anders als nun in Deutschland. Der sonst eigentlich immer recht streng gekleidete Olaf Scholz trat am 14. Februar 2018 beim politischen Aschermittwoch erstmals als kommissarischer SPD-Vorsitzender auf, mit offenem weißen Hemd. Ob er dachte, dass dies zum Bierzelt passte? Franz Josef Strauß trug da aber immer Krawatte. Und so hält es jetzt auch Horst Seehofer. Wobei der schon als Ministerpräsident gerne mal ohne Krawatte unterwegs war, etwa 2011 beim Sommerempfang des Landtags. In der Presse wurde danach diskutiert, ob das ein Bruch des Dresscodes war. Seehofer begründete dies damit, dass seine Frau es nach einem langen Arbeitstag gestattet habe.

Politikerkleidung ist bei uns nicht erst seit "Kaschmir-Kanzler" Gerhard Schröder oder der Aufregung um Rudolf Scharpings Anzüge von Möller & Schaar ein Reizthema. Gut angezogene Politiker haben in der Bundesrepublik immer einen Misstrauensvorschuss bekommen. Erich Mende, Björn Engholm, Walter Scheel, Walther Leisler Kiep, Michel Friedman - Eleganz wird im besten Fall belächelt, häufiger aber als Untugend gebrandmarkt. Karl-Theodor zu Guttenberg war der einzige Politiker, dem man trotz seiner taillierten Anzüge zunächst vertraute. Was sich prompt als Fehler erwiesen hat.

Berufskleidung fördert den Teamgeist

Ob gut geschnitten oder nicht, es handelt sich um die Berufskleidung der Politiker, und im Fall der Männer besteht die nun mal aus Anzug, Hemd, Krawatte und schwarzen Schuhen, bei den Frauen aus Hosenanzug und Bluse oder Top mit schlichtem Ausschnitt, selten Kostüm und Pumps. Berufskleidung wird aus mehreren Gründen getragen. Sie drückt aus, dass die Individualität während der Arbeit in den Hintergrund tritt. Berufskleidung fördert den Teamgeist, da sie die Gemeinsamkeit unterstreicht. Und sie verhindert, dass man durch auffällige Kleidung von der Arbeit abgelenkt wird oder sich schon qua Erscheinung hervortut.

Der Durchschnittspolitiker in Deutschland trägt deshalb meist dunkle Anzüge und weiße Hemden, der Kollege in Frankreich und Italien bevorzugt oft das schmeichelhaftere und TV-freundliche hellblaue Hemd. Dunkle und fein gemusterte Krawatten mit blauem Fond gelten dazu als seriös, Gelb, Grün, Pink oder Lila werden meistens negativ bewertet. Weinrot wirkt in der Regel fade, die knallrote Krawatte ist als Hingucker etwas abgedroschen, aber nach wie vor bei einigen Staatschefs bei bestimmten Anlässen beliebt. Allzu lebhafte Motiven sind mit Vorsicht einzusetzen - da die Krawatte direkt unter dem Gesicht platziert ist, sollte sie so wenig wie möglich davon ablenken. Die beste Wahl wäre eine einfarbig dunkelblaue Krawatte. Sie war der Favorit des äußerst gut gekleideten Sergio Loro Piana. Deutsche Politiker tragen sie allerdings selten.

Die Berufskleidung unserer Politiker symbolisiert außerdem, dass wir eine Republik und eine Demokratie sind - der Anzug ist Symbol des Bürgertums. Nach 1949 bezeugte er den unmilitärischen, antipreußischen und friedlichen Charakter der Bundesrepublik. Damals war der Anzug noch Grundstock der Herrengarderobe, jedermann trug ihn. In den Jahren nach 1968 entfernten sich die Politiker darin aber mehr und mehr von der Alltagskleidung, er unterstrich bald ihr formales und würdevolles Amt. Das funktioniert aber nur, wenn der Anzug komplett ist. Es gilt: Wer ein Gebot verletzt, bricht das ganze Gesetz. Ohne Krawatte ist das ganze Outfit sinnlos.

Abgeordnete in Freizeitkleidung - das würde nicht funktionieren

Entwickelt hat sich die Krawatte im 18. Jahrhundert aus Varianten des Halstuchs. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert etablierte sich die bis heute übliche Form. Im Vergleich zu den kunstvoll verschlungenen Halstüchern der britischen Regency-Epoche besticht der moderne Langbinder eher durch Minimalismus und rundet den Anzug mit einer vertikalen Linie optisch sauber ab.

Was wäre, wenn Minister und Abgeordnete Freizeitkleidung tragen würden, wie die meisten Deutschen? Das Kabinett in T-Shirt, Shorts und Birkenstocksandalen, mit Fleecejacke, Jeans und Sneakers? Viele würden das begrüßen. Dennoch wäre es nicht machbar. Und die Politiker würden es wohl selbst nicht wollen. Weil sie spüren, dass sie Anzug und Krawatte als Teil der Wichtigkeitsinszenierung brauchen, mehr denn je. Gianni Agnelli sah auch in aufgeknöpftem Denimhemd und weißen Jeans beeindruckend aus, Olaf Scholz oder Horst Seehofer aber nicht.

Woher also dieser neue Unwille, den Dresscode zu erfüllen? Vielleicht liegt es daran, dass die Bundeskanzlerin als Frau keine Krawatte trägt. Schröder, Kohl, Schmidt und alle Kanzler vor ihnen trugen Krawatte, das war also Vorgabe von ganz oben. Vielleicht ist es der missglückte Versuch, ein bisschen moderner und jünger rüberzukommen. Aber solange man smart-casual nicht beherrscht, sollte man lieber bei der Krawatte bleiben.

Bernhard Roetzel ist Spezialist für klassische Herrenmode. Zuletzt erschien von ihm das "Gentleman Lookbook" (Verlag: H.F. Ullmann)

© SZ vom 14.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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