WM 2010: Statistik:Nordkoreas Diktatur stützt die Prognose

Lesezeit: 3 min

Tippzettel in den Papierkorb, Analysen ins Archiv: Bei dieser WM werden auch wissenschaftlich fundierte Vorhersagen von der Realität der Resultate überrascht.

Christoph Biermann

Es mag ein wenig wie der Versuch eines Nachtretens erscheinen, Prognostiker nach dem Ergebnis ihrer Voraussage zu fragen, wenn man davon ausgehen muss, dass sie damit nicht glücklich sind. Das gilt nicht nur für die Autoren all dieser WM-Tippzettel, die derzeit unauffällig zusammengeknüllt und still entsorgt werden. Auch eine Gruppe Wissenschaftler der Universität Tübingen, die dort politische Wirtschaftslehre und vergleichende Politikfeldanalyse betreiben, haben sich vor der WM an eine "ganzheitliche Analyse der Erfolgschancen" gemacht, die sich als nicht sehr genau erwiesen hat. Das Team um Professor Josef Schmid hatte sich nämlich nicht nur auf Brasilien als Weltmeister festgelegt, im Spiel um Platz drei sahen sie Frankreich und Italien. Außerdem sahen sie England im Viertelfinale sowie Südafrika, Griechenland und Kamerun im Achtelfinale vorausgesagt. Einen Trost gibt es immerhin: Deutschland rechneten sie ins Finale.

Der Auftritt der nordkoreanischen Mannschaft in Südafrika zumindest bestätigt die Statistik der Experten. Derzufolge schneiden Diktaturen bei Weltmeisterschaften nämlich vergleichsweise schlechter ab. (Foto: ap)

"Sicherlich werden wir das Modell nach der WM kritisch überprüfen müssen", sagt Schmid und gibt auch gerne zu, dass seine Mitarbeiter und er während des Turniers mitunter Haare raufend vor dem Fernseher gesessen haben. Bemerkenswert bleiben ihre Überlegungen aber dennoch, weil sich die Politikwissenschaftler nicht etwa törichterweise als Fußballexperten profilierten wollten, sondern interessante Hinweise aus ihrem Arbeitsbereich auf das Spiel anwendeten. "Selbst wenn nicht alles bierernst gemeint ist, entsprechen unsere methodische Vorgehensweise, die statistischen Verfahren und die Generierung von Hypothesen allen Regeln der Wissenschaft", sagt Schmid. Und sie helfen zu verstehen, dass Erfolge im Fußball oft auch durch Faktoren erklärt werden können, die zunächst einmal weit außerhalb des Spiels zu liegen scheinen.

"Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Lichtgestalten" heißt das Motto der WM-Prognose, die sich drei Bereiche vornahm. Bei den sogenannten Fußball-Variablen, die natürlich auch vorkamen, schauten die Wissenschaftler beispielsweise darauf, wie oft die WM-Teilnehmer schon an Endrunden teilgenommen und wie sie dort abgeschnitten hatten. Das leuchtet ein, denn die Erfahrung und vergangene Erfolge helfen vor allem den großen Fußballnationen oft wieder. Die Tübinger rechneten auch die Platzierung in der Fifa-Weltrangliste ein, die die Ergebnisse der Nationalteams kontinuierlich aufarbeitet. Den Koeffizienten der Europäischen Fußball-Union (Uefa) benutzten sie, um bei der Besetzung der Kader zu sehen, ob die Spieler aus starken Ligen und guten Klubs kamen. Zudem hatten sie aus den Erfahrungen vergangener Turniere einen Heimvorteil für Südafrika von fünf Prozent errechnet, der allerdings auch nicht reichte, die Vorrunde zu überstehen.

Erfolgsfaktor Reichtum

Solche Berechnungen der Leistungsfähigkeit sind nicht neu, sie werden auch von Wettanbietern unternommen, um Quoten zu erstellen. Die Politikwissenschaftler zogen darüber hinaus allerdings auch polit-ökonomische Variablen heran, denn diese würden den Erfolg von Mannschaften bei Weltmeisterschaften erstaunlicherweise nur zu einem Prozent weniger als die oben genannten rein fußballerischen Faktoren erklären.

Also bezogen sie ein, wie hoch das Bruttoinlandsprodukt ist, denn "in Gesellschaften, in denen mehr Wohlstand existiert, spielt auch sportliche Förderung eine größere Rolle", sagt Schmid. Ein anderer Faktor ist der sogenannte Gini-Koeffizient, bei dem es sich um ein statistisches Maß handelt, die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen in einer Gesellschaft zu bemessen. Ungleichheit kann gerade im Sport eine "Triebfeder zu herausragenden Leistungen" sein, um selber zu Wohlstand zu kommen.

WM 2010: Entdeckungen
:Die Elf der WM

Diese Weltmeisterschaft hat die großen Namen verschluckt oder ausgespuckt, um neue Helden hervorzubringen. Eine Entdeckungs-Elf aus Südafrika.

Thomas Hummel, Kapstadt

Auch der Freedom House Index, der den jeweiligen Freiheitsgrad in den Staaten abbildet, woben die Wissenschaftler ein, denn bei früheren Berechnungen war klar geworden, dass Diktaturen tendenziell weniger erfolgreich waren. Der Auftritt von Nordkorea als schlechteste Mannschaft der WM belege dies: "Teams aus Diktaturen haben auf dem Platz weder Chancen auf den Titel noch auf das Halbfinale", meint Schmid.

Zum dritten Bereich der sozio-geographischen Variablen gehört verblüffenderweise der Katholikenanteil als Erfolgsfaktor, denn historisch haben Länder mit hohem Katholikenanteil signifikant besser abgeschnitten. Hier dürfen sich die Tübinger nach den Erfolgen der Südamerikaner zumindest teilweise bestätigt fühlen. "Die wissenschaftliche Prognostizierbarkeit von Ereignissen erreicht bei unvorhersehbaren Totalausfällen wie Italien und Frankreich allerdings ihre Grenzen", sagt Schmid.

Etwas Trost gibt es aber auch, denn auf der Basis des Modells konnte die Stärke der Vorrundengruppen errechnet werden. Die deutsche Gruppe wurde als die schwerste identifiziert und immerhin kamen mit Löws Team und Ghana zwei Mannschaften daraus ins Viertelfinale, während aus der zweitschlechtesten Gruppe mit England und USA beide schon im Achtelfinale ausschieden.

Über ihre Verhältnisse

Solche Berechnungen können helfen, zu einer faireren Bewertung von sportlichen Leistungen zu kommen. So haben die beiden englischen Autoren Simon Kuper und Stefan Szymanski in ihrem Anfang des Jahres erschienenen Buch "Soccernomics" versucht, die Erfolge von Fußballnationen in den Zusammenhang mit der Bevölkerungsgröße, dem Bruttoinlandsprodukt und der fußballerischen Erfahrung zu stellen. Damit haben sie vor Beginn der WM jene Länder ausfindig gemacht, die über ihren Möglichkeiten spielen. In der Top Ten waren mit Honduras als Nummer eins, Neuseeland, Südafrika, Brasilien, Spanien und Australien auch einige Teilnehmer dieser WM. Die Brasilianer wird ihre Platzierung in diesen Charts allerdings nicht trösten.

© SZ vom 06.07.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: