WM-Historie (6): 1970:Das Jahrhundertspiel

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Kein Sieger, kein Besiegter? Von wegen. Franz Beckenbauer und Gerd Müller kennen das Halbfinale der WM 1970 in Mexiko gegen Italien nur als Tragödie. Doch die Welt feiert es als das herrlichste Spiel aller Zeiten.

Die Legende wurde geboren, kaum dass der Kampf zu ­Ende war. Im Bann des dramatischen Geschehens prophezeite ein mexikanischer Fernsehkommentator mit Pathos in der Stimme: "Dieses Spiel geht in die Geschichte ein. Man wird im Estadio Azteka eine Gedenktafel anbringen, auf der Italien und Deutschland steht und das Datum vom 17. Juni 1970. Aber man wird kein Ergebnis nennen, denn das Spiel hatte keinen Sieger und keinen Besiegten."

Trikottausch nach dem Kampf: Gerd Müller und der italienische Abwehrspieler Giacinto Facchetti nach dem Halbfinale in Mexiko-Stadt. "So ein Spiel vergisst man nie", sagte Müller Jahrzehnte später, "ich könnte heute noch wahnsinnig werden." (Foto: online.sdesport)

Kein Sieger, kein Besiegter? Von wegen. So ein Spiel, "das kriegt man nie mehr aus dem Kopf", sagt Gerd Müller. "Ich könnte heute noch wahnsinnig werden. Von der Schlappe gegen die Italiener erhole ich mich nie."

Müller blieb nicht allein mit seiner Einschätzung. Bald schon war weltweit vom "Spiel des Jahrhunderts" die Rede. Wer das in die Welt gesetzt hatte? "Die Presse", natürlich, ließ Franz Beckenbauer, der nichts vom Heldenepos des mexikanischen Reporters gehört hatte, schon 1975 in seinem Buch "Einer wie ich" schreiben. Ihr Urteil sei "übertrieben, wie so oft".

Weshalb das dramatische Duell bis zum bitteren Ende im Semifinale der Weltmeisterschaft 1970 sich bei so vielen Menschen tief in die Erinnerung eingeprägt hat, bei Müller und Beckenbauer aber bloß als trauma­tisches Erlebnis, und schon gar nicht als Ereignis von epochaler Bedeutung? Ganz einfach: Die beiden hatten verloren, 3:4 nach Verlängerung. Aus der Traum vom Finale.

Es ist aber auch so, dass Beckenbauer wohl nicht begreifen mochte, wie zwei Dutzend der besten Fußballer in zwei Stunden mehr Fehler machen konnten als das ganze Jahr über. Vor allem aber: ein Spiel, das nicht von Beckenbauers Genialität inspiriert war, das beste des Jahrhunderts? So ein Blödsinn konnte nur einem der in seinen Augen zahllosen ahnungslosen Journalisten eingefallen sein.

Auch wenn Beckenbauer alles ganz anders bewertet: Der Mythos lebt. Er gründet wohl vor allem darin, dass das Spiel sich zu einem Drama mit absehbar tragischem Ende entwickelte. Das Schicksal der Deutschen war längst besiegelt, als sie noch dagegen ankämpften, mit einem blessierten Anführer. Der Evening Standard sah in Franz Beckenbauer in englisch-martialischer Reportersprache einen "verwundeten, besiegten, aber stolzen preußischen Offizier". Die Mexikaner mag er eher an Cuauhtémoc erinnert haben, den letzten Herrscher der Azteken, in seinem aussichtlosen Kampf gegen Hernán Cortés, den spanischen Eroberer. Das Denkmal des mexikanischen Helden steht in Queretaro, dort nahm der Teamchef Beckenbauer während der Weltmeisterschaft 16 Jahre später Quartier.

Es rührte ans Herz, wie Beckenbauer, der geniale Fußballkünstler, schon damals Inbegriff der Leichtigkeit des Seins auf dem Rasenrechteck, nach einem schweren Foul von Pierluigi Cera 50 Minuten lang mit halber Kraft und mehr mit dem Gleichgewicht als mit dem Gegner kämpfend, sich unter glühender Sonne über das Spielfeld plagte. Sonst wie entfesselt, jetzt den rechten Arm mit Klebeband am Körper fixiert, um das gesprengte Schultereckgelenk halbwegs ruhig zu stellen. Die Hand aufs Herz gebunden, der Gentleman am Ball als Schmerzensmann.

Fast tatenlos musste er mit ansehen, wie der Gegner immer noch eins draufsetzte. Gerade hatte Gerd Müller eine riskante Rückgabe von Fabrizio Poletti mit der Fußspitze zur 2:1-Führung ins Tor gelenkt, da schoss Tarcisio Burgnich nach einem unfasslichen Fehler von Siggi Held den Ausgleich. Wiederum fünf Minuten später erzielte Luigi Riva das 2:3. Riva nahm eine Flanke auf, schlug einen Haken an Schnellinger vorbei und traf ins entfernte Toreck.

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Keiner wagte mehr an den erneuten Ausgleich zu denken. Da besorgte Müller das 3:3, im Hechtsprung nach einer Flanke von Reinhard Libuda, die Uwe Seeler mit dem Kopf in den Strafraum gelenkt hatte. "Muller, again Muller", murmelte Bobby Moore, der das Spiel für einen englischen Fernsehsender kommentierte und gegen Deutschland ausgeschieden war - durch ein Tor von, natürlich, Müller. Das 3:3 war Müllers zehnter Treffer bei dieser Weltmeisterschaft. Italiens Regisseur Gianni Rivera biss, wie Fotos dokumentieren, vor lauter Wut ins Tornetz.

Losentscheid? Nein. Rivera selbst schoss eine Minute später Italiens Team ins Halbfinale, als die Deutschen in der Freude über den Ausgleich erneut vergaßen, sich auf die Defensive zu konzentrieren. "Es wurden immer in den Momenten Fehler gemacht, in denen wir glaubten, das Spiel in der Hand zu haben", klagte Bundestrainer Helmut Schön. Auf der linken Seite spielte Boninsegna Willi Schulz aus und flankte, Rivera stand alleine am Elfmeterpunkt und erzielte das 3:4. "Was diese Verlängerung an Dramatik gebracht hat, ist wohl bisher ohne Beispiel", schrieb damals die Süddeutsche Zeitung.

Wie haben die Deutschen den Schiedsrichter Arturo Yamasaki beschimpft, einen Japaner mit peruanischem Pass. "Da war einer auf dem Feld, der ist gegen uns gewesen", klagte Uwe Seeler. Hermann Neuberger, Vizepräsident des Deutschen Fußball-Bundes, hielt sich ebenfalls nicht zurück: "Das war eine unmögliche Leistung." Zwei Elfmeter nach Fouls an Beckenbauer und Seeler habe Yamasaki verweigert, "was sich der erlaubt hat, war ein Verbrechen", zeterte Beckenbauer damals, "jawohl ein Verbrechen. Ich war schon vorbei, da haut mir der Facchetti eine hinten rein." Erst als ihn die Milde des Alters nachdenklicher machte, hat Beckenbauer eingestanden, er habe sich "reingeworfen wie ein Verrückter, ich wollte einen Elfmeter".

Allerdings wären Franz Beckenbauer und die Seinen um diese Zeit längst als Besiegte unter der Dusche gestanden, wenn Yamasaki nicht vier Minuten an die zweite Halbzeit drangehängt hätte. Ausgerechnet Karl-Heinz Schnellinger, seinerzeit in Diensten des AC Mailand, nützte die geschenkte Zeit, um Roberto Boninsegnas 0:1 zu egalisieren, im letzten Augenblick. Den von Jürgen Grabowski geflankten Ball beförderte der Abwehrspieler bei seinem einzigen Ausflug über die Mittellinie grätschend zum 1:1 ins Tor.

"Ein herrliches Spiel", meinte Italiens Trainer Ferruccio Valcareggi, "es hätte am Ende jeder Weltmeisterschaft stehen können. Es wäre schade gewesen, wenn zwischen diesen großartigen Teams das Los entschieden hätte." Auch die italienischen Zeitungen übertrafen sich im Verfassen von Lobeshymnen. "Ein heroischer Sieg gegen ein großartiges Team - Deutschland, vielleicht die beste Mannschaft des Turniers", jubelte Il Tempo, und der Corriere dello Sport hielt die Partie für "das dramatischste Treffen in Italiens Fußballgeschichte", höher einzuschätzen als das Finale 1938, als Italien in Paris gegen Ungarn Weltmeister wurde.

Auch die mexikanischen Journalisten wählten große Worte. "Es ist unmöglich, dass sich etwas Derartiges wiederholt - 120 Minuten konzentrierter Fußball, Drama, Kunst, Kraft, Hysterie, alles!", schrieb Il Heraldo. "Alle 102 000 Zuschauer haben gestern das großartigste Ereignis ihres Lebens gesehen." Der Excelsior, die angesehenste Zeitung Mexikos und sonst ruhigen Tönen zugetan, schrieb von der "Wiedergeburt des Fußballs" im "wunderbarsten, dramatischsten und herrlichsten Spiel aller Zeiten".

In Österreich fesselte die Verlängerung die Schüler derart, dass nach Angaben der Nachrichtenagentur UPI am nächsten Tag in zahlreichen Klassen nicht einmal die Hälfte zum Unterricht erschien. "Wir haben angesichts dieses Spiel für ihre Begeisterung Verständnis", erklärte sogar der Wiener Lehrerverband.

Die Verlierer hingegen hatten natürlich keinen Blick für die Strahlkraft dieser Partie. Ihre Enttäuschung saß tief. Franz Beckenbauer stichelte: "Mei, haben wir Chancen gehabt, der Held, der Overath und unsere beiden Dicken da vorn", Seeler und Müller. "Der Gerd muss ja drei Tore machen." Da ballerte Gerd Müller zurück, wobei auch Bundestrainer Helmut Schön in die Schusslinie geriet: "Wenn der Franz Libero gespielt hätte statt im Mittelfeld, hätten wir keine vier Tore gekriegt." Und er gab auch dem Flügeldribbler Reinhard Libuda gleich noch eine mit: "Der ist außen durch, in der Mitte steh' ich völlig frei - und was tut der Verrückte? Schießt aufs Tor. Dabei hätte er nur zurückspielen müssen, ich hätte den Ball gestoppt und reingemacht. Aber nein, er haut daneben."

Wie hätten die erzürnten und enttäuschten Franz Beckenbauer und Gerd Müller auch wissen können, dass schon ein Glorienschein das Spiel umkränzte, der Sieger wie Besiegte gleichermaßen glänzen ließ, und es keine Rolle mehr spielte, wer ein Tor geschossen hatte und wer nicht?

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