Tour-de-France-Sieger Nibali:Sympathischer Kämpfer mit obskurer Begleitung

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Vincenzo Nibali passiert auf der letzten Etappe der Tour de France den Triumphbogen in Paris. (Foto: AP)

In Italien erzählen sie verzückt die Geschichte vom Aufstieg des Sizilianers Vincenzo Nibali aus bescheidenen Verhältnissen zum Gewinner der Tour de France. Doch seine Überlegenheit wird mit Skepsis betrachtet - vor allem wegen seiner Entourage.

Von Johannes Aumüller, Périgueux

Signore und Signora Nibali dürfen demnächst auf einen größeren Andrang hoffen in ihrer kleinen Videothek in der Via Cesare Battisti in Siziliens Hafenstadt Messina, einer Straße, deren Ende quasi ins Mittelmeer mündet. Neulich waren mal wieder Reporter der italienischen Gazetten da, sie haben dort einen kompletten Tag verbracht, und am Ende notierten sie neben diversen Gesprächen mit den Inhabern die Zahl der Kunden, die vorbeigeschaut hatten: einer. Ein Videoverleih halt, wer braucht in den Zeiten des Internets noch einen Videoverleih?

Aber jetzt haben sie in der Via Cesare Battisti ein unermessliches Werbe-Pfund, mit dem sie für ihr Lädchen werben können. Der Sohn des Hauses, Vincenzo, ist jetzt ein Tour-de-France-Sieger, einer der ganz großen Helden des Radsports.

Am Samstagabend befindet sich dieser Vincenzo gut 2000 Auto-Kilometer von Messina entfernt in einem französischen Städtchen namens Périgueux. Es ist quasi vollbracht, alleine die obligatorische Tour d'honneur mit Champagnertrinken und Champs-Élysées-Ankunft am Schlusstag steht noch bevor, doch schon jetzt sitzt Nibali in einer stickigen Halle vor den Journalisten, um über seinen Sieg zu referieren.

Das ist so Tradition bei der Tour, und natürlich geht es jetzt viel um Sizilien, Italien, die Familie. Um die traditionell schwierige Wirtschaftslage im Süden des Heimatlandes, weshalb die Eltern ihren Kindern den Sport als einen Ausweg nahelegen. Um Nibalis Kindheitstage, als er mit dem Papa schon fleißig den Hausberg Ätna hochfuhr, wobei er übrigens bis heute gerne mit dem Papa Spazierfahrten unternehme, wenn es die Zeit erlaube. Und um seine Entscheidung, die Heimat mit 16 Jahren zu verlassen, um in der Toskana Radprofi zu werden. Das war die Grundlage, um später zum "Hai von Messina" aufzusteigen.

Tour de France
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Zu jemandem, der, wie bei der Tour bewiesen, so viele Aspekte des Radsports außergewöhnlich gut beherrscht, die Anstiege, die Abfahrten, das Zeitfahren, das schwierige Kopfsteinpflaster, und das sogar so gut, dass kaum noch jemand fragt, ob die Tour auch so zu Ende gegangen wäre, wenn die beiden größten Favoriten Christopher Froome und Alberto Contador nicht frühzeitig nach Stürzen ausgestiegen wären. Und der sich dabei bis heute in einer ungewöhnlichen Mischung aus Bescheidenheit und Angriffslust präsentiert.

Der Tour-Sieg von Vincenzo Nibali, so erzählen sie das jetzt in Italien, das ist der Aufstieg eines sympathischen Kämpfers aus bescheidenen Verhältnissen auf den Olymp des Radsports. Aber Sizilien, Italien, Familie, das ist eben nur das eine von "zwei Leben des Vincenzo Nibali", wie die L'Équipe während der Tour schrieb.

Das andere offenbart sich, wenn die Radsport-Welt und die italienische Öffentlichkeit in ihrer Verzückung gar nicht mehr wissen, mit wem sie ihren neuen Liebling vergleichen sollen. Irgendwie mit Lance Armstrong, weil er genauso dominant fuhr und die Konkurrenz in den drei Wochen nicht nur minimal, sondern um fast acht Minuten distanzierte. Irgendwie auch mit Marco Pantani, 1998 der bisher letzte italienische Sieger der Tour, weil er bei seiner Kraxelei durchs Gebirge manchen Beobachter an dessen Fahrstil erinnerte. Oder auch mit Eddy Merckx, weil er sich so siegeshungrig gab wie einst der Belgier und sich Merckx' Spitzname "Kannibale" nun wunderbar in "CanNibali" abwandeln ließ.

Der Dopingbetrugsperfektionist Armstrong, der Epo-Sünder Pantani, der Amphetamin- und Kortison-Nehmer Merckx - das sind nicht gerade die angenehmsten Bezugsgrößen, und deswegen wäre es Nibali am liebsten, wenn die Betrachtungen seines Auftritts ganz ohne Vergleiche auskämen. Aber er hat seinen gehörigen Anteil daran, dass das Thema Doping auch die 101. Auflage der Frankreich-Rundfahrt und ihren großen Matadoren hartnäckig umgeben hat. Denn zur allgemeinen Skepsis, warum just in der diesjährigen Auflage erstmals in der Tour-Geschichte Baguette und Energieriegel ausreichend gewesen sein sollen, um die Schinderei zu überstehen, gesellt sich in Nibalis Fall ja ein höchst obskures Umfeld.

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Seit 2013 fährt er für die kasachische Astana-Equipe, ein unverhohlenes Staatswerbeprojekt, in der ein Dopingfall oder eine dubiose Vergangenheit so etwas wie Einstellungskriterium zu sein scheint. Der Teamchef Alexander Winokurow ist ein überführter Blutdoper, der Sportliche Leiter Giuseppe Martinelli hat den Epo-Sünder Pantani zum Tour-Sieg geleitet, der Teamarzt soll nach Aussagen von ehemaligen Profis früher bei CSC mit Kortison-Ausnahmeregelungen getrickst haben, was er dementiert.

So geht es in einem fort. Nibali selbst sah sich schon dem Vorwurf ausgesetzt, mit dem Betrugsarzt Michele Ferrari zusammengearbeitet zu haben, weist jedoch jeglichen Kontakt hartnäckig zurück. Doch als er da am Samstagabend in Périgueux sitzt, da wird der warme und sympathische Vortrag immer dann etwas einsilbiger, wenn es um Dopingfragen geht, bis er sich immerhin zu einem kleinen Dankeschön ans neue Dopingkontrollsystem durchringt, ohne das er "vielleicht heute nicht hier sitzen würde".

Er sitzt jetzt dort als einer der ganz Großen des Radsports, dank seiner Siege bei der Spanien-Rundfahrt 2010, beim Giro d'Italia 2013 und nun bei der Tour ist er der erst sechste Fahrer, der alle drei großen Rundfahrten gewann. Und unter seinen fünf Vorgängern war mit Bernard Hinault immerhin einer, von dem es Zeit seiner Radler-Karriere keinen Dopingfall gab.

© SZ vom 28.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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