Tour de France:"Jeder fährt, als ob ihm sein Leben nichts wert wäre"

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Alberto Contador nach einem Sturz auf der ersten Etappe der Tour de France. (Foto: AFP)
  • In den ersten Tour-Tagen haben viele im Peloton den Eindruck, dass die Aggressivität und Risikobereitschaft im Feld nochmals zugenommen habe.
  • Der Gesamt-Führende Peter Sagan kritisiert seine Kollegen heftig.
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Von Johannes Aumüller, Angers/Cherbourg

Als Erstes ging die Krücke des großen Bosses nach oben, dann folgten ein paar extralaute Freudenschreie mitsamt gewohnt derben Formulierungen. Oleg Tinkow, der exzentrische Eigner des gleichklingenden, aber in der Rad-Szene als Tinkoff firmierenden russischen Teams, hat es sich bei dieser Tour angewöhnt, kurz hinter der Ziellinie zu stehen und alle teilhaben zu lassen an seinen Gefühlen. Und so hüpfte er nach der Etappenankunft in Cherbourg jauchzend und trotz seiner Meniskus-Operation ausdauernd durchs zielbereichsübliche Chaos, um kurz darauf ganz euphorisiert seinen Spitzenfahrer Peter Sagan zu herzen.

Das erste Gelbe Trikot fürs Team und das erste Gelbe Trikot für den Slowaken überhaupt, das verdrängt schon mal die Kniebeschwerden eines Teambesitzers und manch anderen Kummer. Aber bemerkenswerterweise frohlockte Sagan selber deutlich weniger. Gewiss freute er sich über seinen Bergsprint und den Sprung ins Leader-Trikot. Aber zugleich hatte er sich offenkundig vorgenommen, den Moment des Triumphes mit einem ungewöhnlichen Auftritt zu verknüpfen: einer harten Schelte seiner Radprofi-Kollegen und deren Fahrstil, die nun viele rätseln lässt.

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Peter Sagan, 26, geboren in Zilina und amtierender Weltmeister, ist der wohl ungewöhnlichste Vertreter des Pelotons. Die Branche bewundert ihn für seine Vielseitigkeit, die ihn für Klassiker ebenso befähigt wie für Massensprints oder fürs Mountainbike-Rennen bei den Olympischen Spielen in Rio - und in den Augen mancher mittelfristig sogar für die Gesamtwertung bei der Tour. Zudem weiß er, sich aus der grauen Masse abzuheben. Sagan ist immer für einen kessen Spruch oder eine ungewöhnliche Aktion gut. Weit oben auf der Favoritenliste steht derzeit der Konter auf die Frage, ob er der Zlatan Ibrahimovic des Radsports werden wolle: "Wer ist das denn?" Aber offenkundig hat sich Sagan nun auch vorgenommen, neben der des Top-Fahrers und Schelmes eine dritte Rolle zu besetzen: die des Chef-Mahners. Und so setzte er in Cherbourg mit der Autorität aus vereinigtem Regenbogen-WM- und Gelbem Trikot zu einem Rundumschlag an.

"Sie fahren, als hätten sie kein Hirn", schimpfte er in Richtung seiner Kollegen. "Es gibt so viele dumme Stürze. Jeder fährt, als ob ihm sein Leben nichts wert wäre." Heute trage er Gelb, anderntags müsse er vielleicht schon wegen eines blöden Sturzes die Heimreise antreten, niemand wisse das so genau. Früher sei das alles vernünftiger und ein anderes Rennen gewesen. "Da gab es Respekt. Wenn einer was Dummes tat, flog eine Flasche oder er bekam eine Luftpumpe ab. Das ist verloren gegangen."

Das sind durchaus erstaunliche Worte - und vielleicht ist es sinnvoll, zwei Ebenen voneinander zu trennen. Denn mit seiner grundsätzlichen inhaltlichen Beobachtung steht Sagan nicht alleine da. Stürze in der ersten Woche gehörten zwar schon immer zur Frankreich-Rundfahrt wie das Gelbe Trikot und die Legende, nach der Mineralwasser und Baguette für die Landstraßen-Qual ausreichen. Stets ging es extrem schnell und hektisch zu, jeder wollte sich zeigen beim Jahreshöhepunkt.

Aber viele rund ums Peloton haben den Eindruck, dass sich die Aggressivität und der Hang zum Risiko unter den Fahrern noch einmal gesteigert haben. Die Streckenplanung tut ihr Übriges, indem sie die erste Woche mehr zuspitzt. Früher konnten sich die Teams der Klassementfahrer zunächst weitgehend ruhig verhalten, da spielten die Sprintermannschaften mit den Ausreißern ihr gemeines Fangspiel. Inzwischen gibt es immer mehr Gemeinheiten in der ersten Woche, eine windanfällige Streckenführung hier, ein giftiger Schlussanstieg dort, in den vergangenen Jahren waren auch Kopfsteinpflaster beliebt. Das erhöht die Zahl an Mannschaften, die um eine gute Position kämpfen. Tour-Direktor Christian Prudhomme höchstselbst bat die Teams der Klassementfahrer bei einer Besprechung um Zurückhaltung. Bisher verging kein Tag, ohne dass jemand auf dem Boden lag; besonders schlimm war der Massensturz im Finale der ersten Etappe nach Utah Beach.

Aber unabhängig von der Frage, ob es nun hektischer und schlimmer als früher oder bloß genauso hektisch und schlimm wie immer zugeht, schwingt in solchen Sätzen von Sagan noch etwas anderes mit. Früher gab es immer unbestreitbare Herrscher über das Peloton. In den Neunzigern war das etwa Bjarne Riis, danach in besonders zugespitzter Form Lance Armstrong. Sein Wort war wie ein Gesetz, und wer nicht nach seiner Maßgabe handelte oder ihn kritisierte, bekam den Zorn des Pelotonpatriarchen zu spüren.

Seit ein paar Jahren gibt es einen solchen Boss nicht mehr. Das Feld ist breiter geworden, nicht nur in Qualitäts-, sondern auch in Hierarchiefragen. Viele finden das gut, ein Verweis auf früher und Armstrong ist nun nicht gerade das, was der Radsport braucht. Aber bisweilen hat es den Anschein, als wäre Sagan, um den sich nach dem angekündigten Rückzug von Tinkoff diverse Teams bemühen, gerne der neue Chef-Ansager.

Aber er sagt, er könne das leider nicht ändern mit der Fahrweise im Feld: "Ich bin kein wichtiger Fahrer im Feld."

© SZ vom 05.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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