Tour de France:Degenkolb schreibt die kitschigste Geschichte

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Liebt die Plackerei auf Kopfsteinpflaster: John Degenkolb fährt auf dem ungewöhnlichen Straßenbelag gerne voran. (Foto: Christophe Ena/AP)
  • Vor drei Jahren gewann John Degenkolb Paris-Roubaix - jetzt holt er sich hier seinen ersten Tour-Etappen-Sieg.
  • Seit 2015 musste er einige harte Rückschläge verkraften, unter anderem einen heftigen Unfall, nach dem ihm fast ein Fingerglied amputiert worden wäre.
  • Er ist damit der erste Deutsche, der bei der diesjährigen Frankreich-Rundfahrt einen Tagessieg erringen konnte.

Von Johannes Knuth, Annecy

John Degenkolb saß vor eineinhalb Wochen auf der Terrasse eines Hotels in der Nähe von Cholet, rote Mohnblumen, Pool, in der Ferne die sanften Hügel der Vendée. Es war ein wunderbarer Ort, um einen dreiwöchigen Frankreich-Urlaub einzuläuten, aber Degenkolbs Equipe hatte sich dort natürlich niedergelassen, um sich auf die nahende, dreiwöchige Schinderei bei der Tour de France zu präparieren. Der 29-Jährige war guter Dinge, dass es diesmal endlich klappen würde mit dem einen Etappensieg in Frankreich, der ihm in den vergangenen Jahren noch immer irgendwie entglitten war.

Eine Etappe ist ja das größte Versprechen, das die Tour den meisten Fahrern machen kann, sie rückt die Sieger für mehr als einen Tag ins Licht, ob Helfer, Ausreißer, Kapitän. "Jeder Rennfahrer hier ist bei mindestens 99 Prozent, das macht es natürlich unheimlich schwer", sagte Degenkolb. Aber der größte Bonus sei der öffentliche Zuspruch. Ein Etappensieg "macht dich in Frankreich unsterblich", sagte Degenkolb, und in Deutschland, da wird man zumindest so ein bisschen legendär.

Mehr Kitsch als alle Folgen von Oprah Winfrey zusammen

Eineinhalb Wochen und neun Etappen sind bei dieser 105. Tour seitdem absolviert, und falls es tatsächlich irgendwelche metaphysischen Instanzen geben sollte in diesem Sport - man muss sie jetzt doch mal ernsthaft, pardon, ins Gebet nehmen. Dass die Radsport-Götter ein Rührstück inszenieren würden - okay. Dass es um einen gewissen John Degenkolb aus Gera geht, der 2015 Paris-Roubaix gewann, die größte und fieseste Eintages-Schinderei, die sein Sport hergibt, der dann ein Jahr später schwer verunfallte, Glück hatte, weitermachte, auch, weil er unbedingt eine verflixte Etappe beim größten Radrennen der Milchstraße gewinnen wollte - auch gut.

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Aber dass Degenkolb seine Sehnsucht nun ausgerechnet bei der Tour-Etappe nach Roubaix stillte, wo er sich vor drei Jahren in den Geschichtsbüchern seines Sports eingeschrieben hatte? Das war alles viel zu kitschig, selbst für den Radsport, der mehr Possen und Dramen produziert hat als alle Talk-Folgen von Oprah Winfrey und Arabella Kiesbauer zusammen.

Aber es hilft ja nichts, am Sonntag hat sich all das so vollendet, auf der Zielgeraden in Roubaix. Nach 160 Kilometern durch den Nordosten Frankreichs, nach einem chaotischen Tag im Dreck, nach 22 Kilometern übers Kopfsteinpflaster, die manchmal so intakt wirken wie die historische Hauptstraße Pompejis, zwei Jahrtausende nach dem Vulkanausbruch. Die Tour, die dieses Spektakel bewusst gewählt hatte, um das Klassement früh aufzuwirbeln, bekam ihren Höllenritt. Der Australier Richie Porte stürzte, gab auf (allerdings weit vor den Kopfsteinpflastern), Rigoberto Uran verlor eineinhalb Minuten auf die Favoriten.

Andere, wie Romain Bardet, Chris Froome und Mikel Landa stürzten und verloren einige Nerven, bevor es am Dienstag in die Alpen geht. Degenkolb, der diese Plackerei liebt, setzte sich 40 Kilometer vor dem Ziel mit zwei Gefährten ab - Gelb-Träger Greg Van Avermaet und Yves Lampaert - und als der Deutsche auf der Zielgeraden den Spurt eröffnete, war klar, dass ihn diesmal niemand aufhalten würde. Etappensieger, nach sechs zweiten Plätzen - "es ist wirklich unglaublich, ich fühle pure Freude", sagte Degenkolb. "Ich habe superschwere Zeiten hinter mir, so viel durchgemacht." Die Tränen waren längst von allein gekommen.

Tour-Etappen gewinnt man nur unter großen Schmerzen, weil nun mal alle Fahrer ins Licht drängen (und dabei gerne mal tief in den Dopingtopf griffen). Aber Degenkolbs Geschichte hat noch mal eine besondere Komponente, weil er erfahren musste, dass das Leben sehr schnell größer werden kann als der Sport. Januar 2016, eine britische Autofahrerin raste in eine sechsköpfige Trainingsgruppe von Degenkolbs damaliger Equipe. Sie operierten ihn fünf Mal, fast hätten sie ihm ein Fingerglied amputiert; Degenkolb kann einen Finger bis heute nicht richtig beugen.

Drei Monate später das Comeback, er stürzte sich in die nächsten Aufgaben, so hatte er das immer getan. Aber dieser Rückschlag war anders, und das Künstlerglück, das ihn in den vergangenen Jahren unter anderem zu dem Roubaix-Triumph und elf Tagessiegen bei Vuelta und Giro geführt hatte, suchte ihn kaum noch heim. Vor dieser Tour dann eine Knieverletzung, es ging schon wieder schlecht los.

Zu früh zurückgekehrt

Mittlerweile, hat Degenkolb vor eineinhalb Wochen im Gespräch gesagt, wisse er, dass er nach seinem Unfall zu früh in den Sport zurückgekehrt war. "Ich habe das als viel zu selbstverständlich wahrgenommen", sagte er, wie viel Glück er damals hatte: "Ich glaube, ich hätte mir mehr Zeit nehmen müssen, um dankbar zu sein, dass mir nicht mehr passiert ist. In dem Moment ist es eigentlich völlig irrelevant, ob man fünf, acht oder zehn Wochen ausfällt." Stattdessen warf er sich zurück in den Alltag, mit betäubten Sinnen. "Man hat das Ganze noch nicht so sehr zu 100 Prozent verarbeitet, man ist noch mehr unter Druck", erinnerte er sich. Dann fügte er an: "Vielleicht bin ich erst jetzt an diesem Punkt angelangt, an dem ich nach zweieinhalb Jahren endlich nach vorne blicken kann. Ich kann jetzt klarer über diese Dinge sprechen und nachdenken."

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Wer so eine lange, schmerzhafte Reise hinter sich hat, wirft viel Ballast ab. Das Getuschel, die Sprüche, "jeder hat doch gesagt, ich bin am Ende", sagte Degenkolb in Roubaix. Wer so viel hinter sich hat, schaut mit anderen Augen auf das, was war und was kommt. Nach einem Etappensieg bei der Tour sowieso, ein Etappensieg haftet an einem Namen wie ein Professorentitel.

"Meine Karriere war vor dem Unfall immer so, dass es fast immer steil bergauf ging und es nie einen Rückschlag gab", hat Degenkolb in Cholet gesagt, "man ist eigentlich immer zu früh aus dem Genussmodus rausgegangen." Und dann: "Ich glaube, dass ich die schönen Momente, die ich in Zukunft einfahren werde, wahrscheinlich noch mehr genießen kann als vorher." Der Sonntag in Roubaix war kein ganz schlechter Anfang.

© SZ vom 17.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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