Tennis:Der Kontrollverlust des Novak Djokovic

Lesezeit: 4 min

Weinend geht Novak Djokovic nach seinem Aus in Rio in die Kabine. (Foto: Getty Images)

Die Jagd nach Rekorden hat bei der Nummer eins der Tenniswelt zu tiefen Selbstzweifeln geführt. Er meditiert, reist zu Orten seiner Kindheit und scheint nun ein anderer Mensch zu sein.

Von Gerald Kleffmann

In der Mitte der Reihe sitzt ein Mann, braun gebrannt, weißes, aufgeknöpftes Hemd. Er spricht spanisch, lange und ruhig. Dann reicht der Mann, es ist jetzt schon eine Stunde vorbei, das Mikrofon an seinen Sitznachbarn. Dieser Mann trägt ein blaues Hemd, Shorts, hat dunkles Haar. Er spricht davon, dass die Gruppe auf dem Podium zuvor meditiert habe. Man habe sich gewünscht, Harmonie untereinander und mit den Seelen im Saal herzustellen.

Er sagt: Meditieren sei wichtig. Es sei egal, wer welchen Beruf habe. Wir seien alle gleich. Wir suchten alle nach Liebe, Glückseligkeit. Der Mann erzählt ein Gleichnis, in dem es um Autos geht, die unsere Gedanken sind und auf den Straßen verkehren. Manchmal helfe es, aus dem Verkehr auszuscheren. Auf einen Berg zu gehen. Von dort auf den Verkehr zu sehen. Ein schönes Bild.

Der Mann ist Novak Djokovic.

Das zweistündige Video ist leicht im Internet zu finden. Pepe Imaz hat es auf seine Homepage gestellt. Imaz ist der braun gebrannte Mann, der Initiator der Sitzung. Er ist Tennistrainer, er leitet eine Akademie in Marbella, die die persönliche Entwicklung von Spielern stark in den Fokus rückt. Auch die Slowakin Daniela Hantuchova und ein Bruder von Djokovic sind in dem Video zu sehen, das einen Eindruck bestätigt: Djokovic, 29, seit zwei Jahren bester Tennisspieler der Welt, der Ende 2015 und Anfang 2016 vier Grand-Slam-Turniere nacheinander abräumte und im Olympia-Jahr vom Golden Slam träumen konnte, ist nicht mehr derselbe. Er sucht nach einem neuen Blick auf seinen Beruf, auf sich, auf seine Ziele. Das sagt er selbst.

Julian Reister
:"Liebes Tennis, ich möchte mich von dir verabschieden"

Profi Julian Reister beendet seine Karriere mit einem ungewöhnlichen, öffentlichen Brief. Es geht um den toten Vater, um schöne Erlebnisse und hohe Arztrechnungen.

Von Gerald Kleffmann

"Um ehrlich zu sein, freue ich mich darauf, die Frische und den Seelenfrieden wiederzufinden, um Sport und das Sein auf dem Tennisplatz zu genießen", sagte er Ende September dem englischen Sender Sky Sports. "Ich verlor das alles irgendwie nach den French Open." In einem Interview mit tennisnet.com gestand er: "Natürlich bin ich nicht dieselbe Person, die ich im letzten Jahr war - oder vor fünf Jahren oder zehn Jahren." Er wolle sich immer weiterentwickeln, denn: "Ich bin dadurch inspiriert, die beste Version von mir selbst zu werden." Das Erstaunliche: Als alle Welt im Frühsommer dachte, das ist die beste Version von diesem Djokovic, die es geben kann, fing er an, über diese Version zu stolpern.

Wie das im Leben oft ist, setzte seine Sinnsuche mit der Erfüllung eines Traumes ein. Es waren die Tage, als er in Paris den letzten fehlenden Grand-Slam-Titel errang. Als er noch vom Golden Slam träumen durfte: vier Grand-Slam-Triumphen sowie Olympia-Gold in einer Saison. Nur Steffi Graf hat das geschafft, 1988. Es war die Zeit, als Djokovics Aggregatszustand nur mit einem Wort beschrieben werden konnte: Dauerdruck. Seine Gegner standen nicht auf der anderen Seite des Netzes. Sie standen in den Geschichtsbüchern.

"Ich strukturiere meine Denkweise neu, um meine Karriere von jetzt an fortzusetzen", wiederholte Djokovic nun in Shanghai. Nach mehreren Verletzungen - in Peking fehlte er zuletzt mit Ellbogenbeschwerden - kehrt er beim 1000er-Turnier der Masters-Serie zurück. Für ihn, der eine unfassbare Erfolgsstrecke hinter sich hat und Turbulenzen erlitt, ist es ein Anfang.

Paris war ein einschneidendes Erlebnis, wie dann Wimbledon, auf völlig andere Art. 2. Juli, dritte Runde, Sam Querrey ist sein Gegner. Djokovic verliert in vier Sätzen, auch als das Match zunächst abgebrochen und am nächsten Tag zu Ende gespielt wird, kann er sich von einer sichtbaren Fahrigkeit nicht frei machen. Alle Welt dachte, der Amerikaner hatte besser aufgeschlagen, Djokovic schlecht returniert. Der Druck, sich dem Golden Slam immer weiter zu nähern, war eben zu groß. Aber das war im Nachhinein nicht die ganze Wahrheit. Djokovics Gedanken waren damals offensichtlich woanders.

Tennis
:Das Cas-Urteil katapultiert Scharapowa zurück ins Geschäft

Der internationale Sportgerichtshof reduziert die Sperre der Russin wegen Meldonium-Missbrauchs auf 15 Monate. Es ist der maximale Triumph für die Tennisspielerin.

Von Philipp Schneider

Bei den US Open bestätigte er das, was zumindest als Gerücht schon im Sommer Gestalt annahm: Er sprach von "privaten Angelegenheiten", die ihn in Wimbledon belastet hätten. Die Spekulationen gingen so weit, dass von einer Affäre mit einer Bollywood-Schauspielerin und dem angeblichen Scheitern seiner Ehe geschrieben wurde. Djokovic und seine Frau Jelena, die einen kleinen Sohn haben, gingen nie auf die Meldungen ein. Aber sie dürften sie wahrgenommen haben. Und das in einer Zeit, in der es sportlich einzig darum ging, welchen Rekord Djokovic als nächstes aufstellen würde.

Djokovics Philosophie beschrieb einmal der Autor Marco Kühn bei tennis- insider.de treffend: "Er wollte das perfekte Spiel. Frei von Eigenfehlern. Die ideale Physis, die ein Tennisspieler haben kann. Bestmögliche Kraft bei möglichst geringem Körpergewicht. Die Ernährung? Kein Löffel wurde dem Zufall überlassen. Novak Djokovic formte sich und sein Umfeld zu einer perfekten, fast unbesiegbaren Einheit. Eine Einheit, die das Tennis dominierte."

Doch dann verlor Djokovic, der Kontrolleur, über manches die Kontrolle. Ein ihm lange unbekanntes Gefühl.

Dazu zählte auch, dass er, der fettfreie Athlet, plötzlich körperliche Beschwerden hatte. Als er in Rio in der ersten Runde gegen den Argentinier Juan Martin Del Potro und bei den US Open im Finale gegen den Schweizer Stan Wawrinka verlor, war er nicht ganz fit. Er erwähnte das kaum. Aber schon mit der Niederlage in New York kam er besser zurecht als mit der in Rio, wo er heftig geweint hatte.

Karriere von Novak Djokovic
:Der "Djoker" sticht immer

Novak Djokovic sammelt mit Zähigkeit und Willensstärke seit Jahren Titel und Rekorde. Seiner Vorbildrolle wird er auf und neben dem Platz aber nicht immer gerecht. Seine Karriere in Bildern.

Von Johannes Mitterer

Djokovic, der seinen Weg von einem Flüchtlingsjungen zum Sportstar als Reise betrachtet, ist dabei zu lernen, wieder mehr loszulassen. Mehr sich als Mensch zu sehen. Und weniger als den Bestmarken jagenden, funktionierenden Superspieler, der jeden mit seinen ballmaschinenhaften Grundlinienschlägen und seiner Ausdauer zermürbt. Seine Jagden haben ihn selbst in gewisser Weise zermürbt. "Ich denke jetzt nicht mehr über die Anzahl der Titel nach", sagte er kürzlich: "Wenn die Titel kommen, super, ich nehme sie natürlich gerne. Aber es gibt schließlich noch andere Dinge neben dem Tennis in der Welt." Auch dass ihn der Schotte Andy Murray bald einholen könnte, stört ihn offenbar wenig. Über das Thema Nummer eins redet er nicht mehr.

Djokovic hat sich viel um seine Familie gekümmert zuletzt. Eine Reality-Doku über ihn wird gedreht, eine Kamera begleitet ihn. Es soll nicht nur ein Abziehbild sichtbar werden. Die Serie wird "Novak" heißen. Ob Boris Becker, der ihn zu sechs Grand Slams führte, sein Trainer bleibt, ließ er noch offen. Er denkt über alles nach. Mit seiner Frau Jelena reiste er auch nach Kopaonik in Südserbien und zeigte in einem wackligen Video jene halb verrottete Tenniswand, an der er als Junge einst stundenlang übte. Es wirkte, als suche er eine Antwort darauf: Wer bin ich eigentlich?

Er spricht ruhig in dem Film, entspannt, Jelena winkt fröhlich. Djokovic scheint seiner besten Version von sich selbst wieder näher zu kommen.

© SZ vom 11.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Wettmanipulation
:Charmeoffensive gegen gekaufte Tennis-Matches

96 Spiele auf der Tennis-Tour geraten innerhalb von nur drei Monaten unter Manipulationsverdacht. Die Anti-Korruptions-Agentur TIU wertet das als Erfolg ihrer Bemühungen. Die Profis haben ihre Zweifel.

Von Matthias Schmid

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: