Ski alpin:Traurige Tradition

Lesezeit: 3 min

Noch zuversichtlich: Josef Ferstl (rechts) vor seiner Unglücksfahrt. Foto: Eibner/imago (Foto: Eibner/imago)

Wieder erwischt es einen deutschen Abfahrer: Josef Ferstl fällt nach einem Kreuzbandriss die gesamte Saison aus.

Von Gerald Kleffmann, Santa Caterina/München

Der Moment, der die gesamte Saison der deutschen Hochgeschwindigkeits-Skifahrer beeinflussen wird, dauerte fünf Sekunden. Sonntagmittag, erster Trainingslauf zur Abfahrt in Santa Caterina/Italien, deren Ernstfall an diesem Dienstag ansteht (11.45 Uhr /Eurosport). Josef Ferstl, zuletzt mit guten Ergebnissen, fährt als Dritter los. Der Schnee ist aggressiv, er verzeiht keine Fehler, doch genau diesen begeht der Traunsteiner. Zu direkt steuert er eine Welle an, wird ausgehebelt, verliert die Kontrolle, rast ins Tor, stürzt. Bleibt liegen. Später wird Ferstl den Betreuern berichten, dass er sich nicht beim Sturz verletzt habe. Sondern bei der Landung zuvor. Kreuzbandriss, Saisonende. "Für den Burschen tut es mir unendlich leid", sagte Wolfgang Maier, der Sportdirektor des Deutschen Ski-Verbandes, der in Lienz vom Unglück erfuhr; dort gastiert der Frauen-Weltcup. "Aber auch das Team trifft das hart. Wenn die Führungsfigur ausfällt, hat das Signalwirkung."

Wenn es überhaupt etwas Positives gibt, dann die Tatsache, dass einer wie Maier geschult ist in der Bewältigung von Rückschlägen in der deutschen Speed-Männermannschaft. Eine traurige Tradition begleitet diese Sorgenabteilung des DSV. "Im Grunde kriegen wir seit 15 Jahren immer eine vors Schienbein", so formuliert es Maier. Konstante Weltklassefahrer waren die deutschen Super-G- und Abfahrts- spezialisten in dieser Zeit nicht, dafür aber im Dunstkreis der Spitze und fähig, aufhorchen zu lassen, Hoffnungen zu nähren. "Wir alle wissen doch, wie es einem Stephan Keppler, einem Flo Eckert, einem Tobias Stechert erging", zählt Maier auf.

Parallelen reichen tatsächlich von Beginn des Jahrtausends bis in die Gegenwart. Der Lörracher Florian Eckert blitzte 2001 bei der WM mit Abfahrts-Bronze auf, im Herbst darauf erlitt er eine Knieverletzung, fehlte zwei Jahre, war nie mehr derselbe. 2005 der Rücktritt. Keppler, der heute Ski-Events anbietet, fuhr Ende der Nullerjahre Top-20-Plätze heraus und 2010 beim Super-G in Gröden gar Rang zwei - einen Monat später: Innenbandriss, Sprunggelenk kaputt. Er kämpfte bis 2014, dann der Rücktritt. Der Oberstdorfer Stechert, Ferstls Vorgänger als Führungskraft, erzielte Top-10-Ergebnisse. Auch er musste dem Berufsrisiko, das laut Maier "eben einfach da ist", Tribut zollen. Im Januar 2015 wurde Stechert 15. in Wengen, Tage später hielt wieder das Kreuzband nicht - noch immer ist ungewiss, ob er je wieder Weltcup-Rennen fahren kann.

Was Ferstls Ausfall jetzt bedeutet? Maier, der eigentlich immer was sagt, sagt erst mal nichts. Dann: "Jetzt steht Frustbewältigung an."

Frustbewältigung, die viel Energie absorbieren dürfte. Die Speed-Abteilung der Männer ist schließlich ein Spezialprojekt in der an Optimierungsprojekten nicht armen alpinen DSV-Sparte. Vor der vergangenen Saison wurde der renommierte österreichische Trainer Mathias Berthold zurückgeholt, diesmal als Männerbundestrainer platziert. Am Pokertisch würde es heißen: Jetzt machen sie "All in", setzen alles auf eine Karte, mit den besten Leuten auf in die Zukunft! Bei Olympia 2018 im Speed zu reüssieren, das ist das Ziel. Berthold und Maier sehen einiges in Ferstl, dem Muskelmann mit dem berühmten Abfahrtsvater Sepp Ferstl, im haudegenhaften Klaus Brandner (Königssee), im kraftstrotzenden Andreas Sander (Ennepetal), der am Montag im zweiten Training als 14. gefiel. Sie sehen etwas, das die Athleten selbst noch nicht sehen. Doch wer könnte Josef Ferstls Lücke füllen?

"Wir haben einige talentierte Fahrer", betont Maier, "doch wir werden sicher nicht gleich die nächsten nach vorne schieben und sie opfern." Er meint das in dem Sinne, dass man den Druck nicht noch mehr erhöhen werde. Genau dieses Thema ist ja eine der größten Baustellen der aktuellen Speed-Kräfte. "Die haben in den ersten Trainings fast immer zu den Schnellsten gezählt", brachte es jüngst Berthold auf den Punkt, "aber im Rennen hatten wir dann oft die schlechtesten Leistungen. Wir haben viel geredet, waren aber auch etwas ratlos." Die DSV-Chefs gehen auf die Naturelle der kernigen, aber auch zu wankelmütigen Profis ein wie noch bei keiner Generation. "Es ist ein sehr angenehmes Arbeiten", lobt Berthold den Geist hinter den Kulissen, nur sagt er auch: "Ich erwarte mir langsam, dass aus dem angenehmen Arbeiten auch zählbare Ergebnisse werden."

Sie werden ihre geduldige Linie beibehalten, das immerhin steht fest. Aber grenzenlos ist sie sicher nicht. Das Zuckerbrot verteilt oft genug der einfühlsam-gestrenge Berthold, die Peitsche schwingt Maier, der blitzgescheite, erfahrene Experte mit dem Saloon-Charme. Jede Saison sollte in diesem Zusammenspiel einen Fortschritt hervorrufen. Ferstls Unfall ist so gesehen ein Rückschritt in dem Masterplan 2018. Wozu der 26-Jährige fähig ist, deutete er 2014 an, als er nach einer Phase der Stagnation leistungsmäßig ausriss und Siebter wurde in Santa Caterina. In Gröden war er kürzlich Zehnter.

Ferstl wird in dieser Saison nichts mehr beisteuern können, am Montag wurde er operiert. Natürlich könnten sich nun andere aufdrängen, wie Thomas Dreßen, 22, aus Garmisch-Partenkirchen, der aufrückte, als sich Fabio Renz (Sonthofen) verletzte. "Die Kunst der anderen ist es, Beppis Verletzung auszublenden", sagt Maier. Sie wollen ja endlich nicht mehr jedesmal bei null anfangen. Im Moment nur fühlt sich das wieder so an.

© SZ vom 29.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: