Ski alpin:60 Meter durch die Luft

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Einer von sechs Verletzten im Abfahrtstraining der ersten WM-Tage von St. Moritz: Olivier Jenot aus Monaco. (Foto: Jean-Christophe Bott/dpa)

Eine Serie von teils schweren Stürzen überschattet den Anfang der Ski-Weltmeisterschaft in St. Moritz. Betroffen sind hauptsächlich Fahrer aus kleinen Ski-Nationen - auch, weil die Verbände auf Vielfalt setzen.

Von Johannes Knuth, St. Moritz

Die Medaillen waren schon vergeben, die meisten Zuschauer ins WM-Dorf im Tal gewandert, als der Super-G der Männer am Mittwoch noch mal zu einem Halt kam. Als hätte jemand mit der Faust auf den Plattenspieler gehauen.

Der Monegasse Olivier Jenot war nach einem Sprung 60 Meter durch die Luft gerauscht und mit dem Rücken aufs Eis geklatscht, er wurde operiert, sie beobachten ihn derzeit auf der Intensivstation. Sein Zustand sei stabil, teilten die Organisatoren am Donnerstag mit. Die Versehrtenliste hatte sich bis zum dritten Wettkampftag in St. Moritz auch sonst gefüllt, nach Super-G und Abfahrtstrainings. Der Slowake Adam Zampa hatte sich Fersenbein und Becken geprellt, der Amerikaner Thomas Biesemeyer kugelte sich die Schulter aus, der Kroate Max Ulrich erlitt eine Becken- und Schulterkontusion; am Dienstag war der Kasache Martin Khuber im Abfahrtstraining gestürzt und an zwei Halswirbeln operiert worden. Die Athleten und Trainer verwiesen auf Funktionäre, die wiederum auf Ärzte verwiesen, und wenn Ärzte gefragter sind als Athleten und Trainer, ist das eher kein gutes Zeichen.

Die Schlagzeilen am Donnerstag waren entsprechend fett und laut. "Horror-Sturz", "Horror-Crash", als habe man einer Massenkarambolage auf der Autobahn beigewohnt, keinem WM-Rennen. Was mit den Umständen nur bedingt korrespondierte. Das Wetter hatte es gut mit den Fahrern gemeint, die Organisatoren hatten ihnen bestens präparierte Pisten bereitgestellt, kein zusätzliches Risiko aufgeladen - wie zuletzt bei den Männern in Garmisch-Partenkirchen, wo der deutsche Cheftrainer Mathias Berthold der Jury ein "bescheidenes Niveau" bei den Sprüngen attestierte. Die schnellen Alpinübungen, die Fahrten über Eisautobahnen bei Tempo 140 in Anzügen dünn wie Skiunterwäsche, sind ein Geschäft mit Kräften, für die auch die Besten nicht immer gemacht sind, das hatte der Auftakt in St. Moritz wieder beweisen. Und auch wenn sich an Anzügen und Airbags noch manches verbessern ließe - "so sicher kannst den Sport nicht machen, dass nix passiert", sagte der deutsche Alpindirektor Wolfgang Maier.

Andererseits waren viele der Sturzopfer von St. Moritz in den niederen Gefilden der Weltrangliste zu Hause und mit Unsicherheit beladen, und das war dann wieder kein gutes Zeichen.

Eine interkontinentale Ski-Messe ist nicht nur eine Leistungsschau, sie ist auch eine Schaubühne für kleinere Nationen, der Beweis, in welchen Winkeln ihr Sport gelebt wird. Gian-Franco Kasper, Präsident des Ski-Weltverbands Fis, hatte in St. Moritz stolz einen Teilnehmerrekord vermeldet, 76 Nationen hatten sich angemeldet, aber am Mittwoch zeigten sich auch die Nebenwirkungen dieses Geschäftsmodells. Wo Exoten im 100-Meter-Lauf ins Ziel trudeln, schlägt die Überforderung in einem Gewerbe wie der Abfahrt schnell in Gefahr um. "Bei den WM treten immer Nationen an, die überhaupt keine Erfahrungen im Abfahrtssport haben", sagte Maier. Wer in St. Moritz antreten will, muss 80 sogenannte Fis-Punkte vorweisen, diese Punkte kann er aus den vergangenen zwölf Monaten in der jeweiligen Disziplin einbringen, von Rennen aus dem Weltcup, dem zweitklassigen Europacup und dem drittklassigen Fis-Level. Also aus Abfahrten, die länger zurückliegen und mit den WM-Prüfungen nur entfernt verwandt sind. Der schwer gestürzte Jenot hatte seine vorerst letzte von acht Weltcupabfahrten im Februar 2016 auf der Olympia-Strecke in Südkorea absolviert. Und jetzt?

Maier schlug vor, dass die Fahrer ihre Fis-Punkte künftig im Winter des Großereignisses einfahren sollten. Oder man lasse nur Fahrer zu, die ihre Punkte im Europacup sammeln, "dass man vorher unter sehr hohem Niveau Abfahrtserfahrung bekommt." Die Erfolgsaussichten? Klein, schätzt Maier, "die kleinen Nationen bekämen eine zusätzliche Fußfessel angelegt", auf den Schaubühnen würde es einsamer werden. Zumal für derartige Regel-Umbauten Gremien der Fis zuständig sind, die mit Vertretern aus eben jenen, kleineren Verbänden besetzt sind.

Welch sportlicher Wert manchen Verdikten aus diesen Gremien innewohnt, zeigt auch die neue Startreihenfolge für die Speed-Wettbewerbe. Die besten Zehn der Weltrangliste müssen seit diesem Winter eine ungerade Startnummer zwischen 1 und 19 auswählen, nacheinander. Der österreichische Verband hatte die Regel lanciert, zusammen mit kleineren Verbänden, die dafür schon mal mit Trainingsmöglichkeiten entlohnt werden; man hoffte, dass die Zuschauer im heimischen Markt länger einschalten. Blöd nur: Für den Zehnten bleibt oft die Eins übrig, die Rolle des Testpiloten, vor allem im Super-G, wo den Rennen kein Training vorgeschaltet ist. "Schwachsinn", findet Berthold; sein Fahrer Andreas Sander war zuletzt in Kitzbühel betroffen, als er in die besten Zehn geklettert war und "im Endeffekt bestraft wurde". Fis-Renndirektor Markus Waldner sagt auf Anfrage, dass das Los des Zehntplatzierten "ein Schwachpunkt" sei, an dem man arbeite, nach der Saison.

Mit anderen Reformen des Winters ist er freilich zufrieden, mit dem neuen Transponder etwa, den jeder Fahrer bei der WM erstmals im Skischuh trägt und der Daten ins TV-Bild einspeist. Dort sieht man, wie schnell der Fahrer beschleunigt, wo er Zeit gewinnt und verliert, mit welchen Kräften er ringt - Kräfte, für die er nicht immer gemacht ist.

© SZ vom 10.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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