Ski alpin:Vom Herrgott erfunden

Lesezeit: 5 min

Wengen ist durch den Skisport groß geworden - und hat den Skisport groß gemacht.

Von Johannes Knuth, Wengen

Wer hinauf will, muss einiges hinter sich lassen. Das Auto samt Navigationsgerät, das einen nach Lauterbrunnen geleitet hat. Den flirrenden Alltag. Also rein in die mattgelb-grün angepinselte Wengneralpbahn, die kaum geräumiger ist als ein Straßenbahnabteil. Vor ein paar Tagen haben die Weltcup-Mannschaften hier alles reingeschafft, Skier, Taschen, Stangen, Laufräder, Skirennläufer, alles durcheinander, wie beim Ausflug einer Schülergruppe. Und dann schiebt sich die Zahnradbahn voran, knarzt, schwankt wie ein Seiltänzer über die rund zwanzig Zentimeter breite Schiene den Berg hinauf, hinein in eine andere Welt.

Eine Kehre, links ein Abgrund, rechts wächst der Berg in den Himmel. Ein Tunnel, dann schiebt sich die Bahn schon in den Bahnhof Wengen. Am Horizont ruhen Eiger, Mönch und Jungfrau. Es ist, als stehe man in einer Postkarte. Und diese Ruhe.

Wengen. 1274 Meter hoch, 1300 Einwohner an normalen Tagen. Am Weltcup- Wochenende, beim 86. Lauberhornrennen, waren es rund 10 000. Ein Ort, der durch den alpinen Skisport wuchs und der den Skisport wachsen ließ - und der gleichzeitig so abgeschieden im Berner Oberland liegt, als hätte ihn ein Maler unveränderbar in die Landschaft gepinselt. Wie es dazu kam? Wer könnte darüber besser erzählen als Fredy Fuchs?

Fuchs, 78, bittet ins Restaurant am Bahnhof, weißgraue Haare, giftgrüne Skijacke. Ur-Wengener. "Wenn man so will", sagt er, seine Stimme klingt kernig und doch ruhig. Er ist in Wengen aufgewachsen, "als Junge ist man Ski gefahren", sagt er, klar, fünf Mal stürzte er sich auf die Abfahrt. Er verletzte sich, wuchs ins Organisationskomitee hinein, dort blieb er bis 2012. "42 Jahre Vize-OK-Chef, circa 30 Jahre Rennleiter", sagt er, so genau weiß er das nicht mehr. Wenn man die Wengener fragt, wie lange sie oder ihre Vorfahren hier leben, geben sie keine Jahreszahlen an. Schon immer, sagen sie.

Wengen gestern und heute: In den 1930ern (kleines Foto) ging es schön beschaulich zu - im Jahre 2016 springt der Italiener Dominik Paris tollkühn über den Hundschopf. (Foto: Alessandro Trovati/AP, Lauener Fritz/picture alliance)

Fredy Fuchs wurde also in Wengen groß, wo sonst, sie hatten ja alles. Grundschule und Sekundarschule, die Landwirtschaft, einen Arzt. Wer zum Zahnarzt musste oder zum Notar, stieg in die Zahnradbahn, 1893 hatten sie die ersten Gleise gelegt, davor nahmen sie Maultiere. Oder Skier. Oder sie gingen halt zu Fuß. Die anderen kamen zu ihnen, die ersten Touristen waren Engländer, reiche Akademiker, die Goethes Schriften über die Region gelesen hatten. Die meisten spielten Curling, tranken Whiskey und spielten weiter. Oder kombinierten beides.

"Alte Engländer am Whiskey sieht man heute nicht mehr so viele", sagt Fuchs. Die Touristen fahren Ski, die Lifte, die Seilbahnen, die Schneekanonen, alles neu. Der Jungfrau-Region geht es gut, auch wenn der Sommertourismus die größeren Einnahmen abwirft; auch die Schweizer wollen sich immer seltener den Wintersport leisten. Die Häuser im Zentrum haben sich dem Skikonsum angepasst, die oberen Etagen sind wie früher, dunkles Holz, knallrote Fensterläden, unten ist alles vollgestopft mit Läden, in denen sie Skihosen für 300 Franken verkaufen. Und sonst? Wer zum Zahnarzt will, nimmt noch immer die Zahnradbahn ins Tal, für Notfälle wartet in Lauterbrunnen ein Helikopter. Autos fahren in Wengen bis heute nicht, nur ein paar Transportfahrzeuge am Rennwochenende. Die Straßen ruhen unter einer dicken Schneedecke. Draußen, also zwei Minuten zu Fuß vom Bahnhof entfernt, liegt das ältere Wengen, dreistöckige Häuser, mit Holz verkleidet. "Nur wer viel gibt, ist reich", steht auf einem. "Die Wengener sind arbeitsame, bodenständige Leute", sagt Fuchs. Polizisten gibt es keine. "Es wird nicht eingebrochen", sagt Fuchs, er lacht, "man kann ja nur per Zug flüchten. Und wenn jemand eingebrochen hat, dann wartet unten im Zweifel die Polizei."

Vieles sei tatsächlich noch wie früher, sagt Fuchs, "es ist schon irgendwie die gute, alte Zeit". In Wengen ist die Schweiz noch eine Skination, jeder ist irgendwie mit dem Skisport verbunden. Außerhalb ist das immer seltener der Fall. Auch, stellte die Neue Zürcher Zeitung unlängst fest, weil der Skisport sich abgrenze, "er steht für eine Urschweiz ohne allzu viele Einflüsse". Das muss in Zeiten von Migration keine gute Nachricht sein. Fuchs glaubt allerdings, dass sie in Wengen aus den Traditionen auch ihre Kraft ziehen. "Wir haben unsere Natur", sagt er, "und unseren Berg."

SZ-Karte (Foto: wengen)

Am Bahnhof gab's 100 Franken für die Besten und im Ziel warme Ovomaltine

Der Berg. "Es gibt keinen Berg auf dieser Welt, der enger mit dem Beginn des alpinen Skirennsports verbunden ist als das Lauberhorn", schrieb der Brite Arnold Lunn einst, der Pionier des alpinen Skirennsports. 1930 organisierte Ernst Gertsch die erste Abfahrt, die Briten (!) hatten behauptet, sie seien die besseren Rennfahrer, das ließen sich die Wengener natürlich nicht gefallen. Später, nach dem Zweiten Weltkrieg, holte Gertsch die Athleten am Bahnhof ab, drückte den Besten wie Toni Sailer 100 Franken in die Hand, im Ziel gab es warme Ovomaltine. Heute bringen sie 330 000 Franken Preisgeld unter die Athleten, die Strecke aber ist nahezu die gleiche. "Wenn die Fis zu viel ändern wollte, dann haben wir uns dagegen gewehrt", sagt Fuchs. Sie wollten mal das Kernen-S abschaffen, diese enge, verrückte Rechts-Links-Schikane, wollten die Strecke begradigen. "Aber den Berg darf man nicht zu viel korrigieren", findet Fuchs, "so sind doch über die Jahre die berühmten Stellen entstanden." Der Hundschopf-Sprung zum Beispiel, an dem sich die Fahrer durch eine fünf Meter enge Leerstelle zwischen Fels und Fangnetz quetschen und dann ins Nichts fallen. Fredy Fuchs sagt: "Die Weltcup-Abfahrten werden mit dem Bulldozer gemacht. Die Lauberhornabfahrt hat der Herrgott gemacht."

Heute kann man auch deshalb an den Schlüsselstellen die Geschichte des Weltcups studieren. Die Kurven tragen Namen von Helden und Gestürzten, im Skisport kommt nichts weg. Die Minschkante zum Beispiel, eine fiese Reihung aus Sprung, Rechtskurve und Kompression. Josef Minsch, ein Schweizer, brach sich dort 1965 das Becken, er kam erst kurz vor den Bahngleisen zum Halt. Später tauften sie die Stelle Canadian Corner, sie steht heute stellvertretend für die Siebzigerjahre, als fünf junge Kanadier, angeführt von Ken Read, an der Dominanz der Europäer rüttelten. Oder die Langentreien-Passage, die für die alte Kunst des Gleitens steht, aber auch für die Industrie, die die Fahrer schneller machte, mit Wachs und neuen Skiern. Und schließlich das Ziel-S, es trägt eine der tiefsten Narben im Weltcup. Dort wo vor 25 Jahren der Österreicher Gernot Reinstadler starb, mit 21 Jahren.

Fuchs knetet nervös seine Finger, wenn er den Namen hört. Er war damals Rennleiter, hatte das neuste Material gekauft, aber das neuste Material war damals eben nicht sicher genug. Reinstadler verlor vor dem letzten Sprung die Kontrolle, flog in den Fangzaun, seine Skier verhedderten sich im Netz, sein Becken wurde aufgerissen. In der Nacht starb er, um zehn vor eins riefen sie bei Fuchs an. Es war ein Unfall, sie trugen nie einen Vorwurf an ihn heran, weder Traudl Eder, Reinstadlers Mutter, noch die Polizei. Aber Fuchs trägt bis heute seinen Schwermut mit sich herum. Erst nach Reinstadlers Tod entwickelte die Industrie neue, sicherere Netze. "Der Tod meines Sohnes hat viele andere junge Leben gerettet", sagte Edler zuletzt dem Blick.

Das ist eben auch eine Botschaft, die das Lauberhorn seit den Anfängen geprägt hat: dass Skifahren bis heute ein Geschäft mit der Gefahr ist, mit Kräften, für die der Mensch oft nicht gemacht ist.

© SZ vom 27.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: