Schach-WM:Magnus Carlsen flattern die Nerven

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Es läuft nicht wie erwartet für Magnus Carlsen. (Foto: dpa)

Der Favorit lässt Möglichkeiten aus, Außenseiter Sergej Karjakin wittert plötzlich Siegchancen: Die Halbzeit-Bilanz zur Schach-WM.

Von Martin Breutigam

Am Samstag wollte Sergej Karjakin seinen zermürbten Nerven eine Pause gönnen. Vielleicht werde er einen Rundflug mit dem Hubschrauber buchen, sagte er am Freitagabend nach der sechsten Partie der Schach-WM, die ebenso remis endete wie die vorangegangenen fünf. Magnus Carlsen kündigte an, lieber am Boden zu bleiben; aber auch der norwegische Weltmeister sagte, er plane etwas "komplett anderes als Schach" am Ruhetag. Ob oben oder unten, es scheint etwas in der New Yorker Luft zu liegen: Zur Halbzeit dieser WM steht es 3:3, und je weniger Partien noch zu spielen sind, desto mehr wächst das Selbstvertrauen des russischen Herausforderers - desto mehr steigt die Möglichkeit einer Sensation.

Dass der 26-Jährige nicht chancenlos sein würde, hatten Experten von vornherein angenommen. Bloß waren sie im Allgemeinen davon ausgegangen, dass Karjakin, unterstützt von einer riesigen Denkfabrik mit russischen Großmeistern und Trainern, den Weltmeister auch mal in den Anfangsphasen der Partien vor Probleme stellen könnte. Doch bislang sah es umgekehrt aus: Fast immer war es Carlsen, der seinen Gegner in den Eröffnungen auf ungewohntes Gebiet lockte und zum Grübeln am Brett zwang. Für Karjakin selbst kam dies offenbar weniger überraschend: "Magnus' Eröffnungsvorbereitung wird von vielen Spielern unterschätzt", sagte Karjakin. "Er ist manchmal wirklich großartig."

Carlsen variiert verschiedene Systeme, Karjakin hat ein enges Repertoire

Tatsächlich treffen auch im Hinblick auf die Eröffnungen zwei grundverschiedene Spielertypen im Fulton Market Building aufeinander. Carlsen variiert von jeher viele verschiedene Systeme, die er zudem ständig mit kleinen Nuancen auffrischt, um nicht in irgendeine Vorbereitung des Gegners zu geraten. Er ist keineswegs immer von Beginn an aufs Maximum aus, sondern oft schon zufrieden, wenn er eine ausgeglichene Stellung bekommt, aus der heraus er anschließend die Gegner überspielen kann. Auf diese Art ist Carlsen bereits stilprägend geworden, viele junge und auch manche ältere Meisterspieler versuchen ihm nachzueifern. Bloß gelingt es niemandem so gut wie dem Weltmeister: Erstens verfügt kaum einer über ein solch außergewöhnliches Gedächtnis, in dem Tausende von Varianten Platz finden, und zweitens reichen nur wenige an Carlsens Schachverständnis heran.

Karjakin hingegen hat ein vergleichsweise enges, aber tiefgründig ausgefeiltes Eröffnungsrepertoire. Der Geist seiner Systeme ist ihm aber anscheinend so vertraut, dass er selbst, wenn er von einer Neuerung des Weltmeisters überrascht wird, durch eigenständige Überlegungen am Brett auf gangbare Wege stößt. Dies gelang ihm in der sechsten Partie, für die Carlsen nur wenig Bedenkzeit verbrauchte, weil er lange seiner Heimanalyse folgen konnte. Ähnlich hatte Karjakin auch in der fünften Partie seine Probleme gelöst; am Ende erspielte er sich in beeindruckender Weise sogar Gewinnchancen, zum ersten und bislang einzigen Mal in diesem Wettkampf.

Für Carlsen, der in den beiden sechseinhalb Stunden andauernden Marathonsitzungen zuvor seinerseits Gewinnchancen ausgelassen hatte, war die fünfte Partie ein mentaler Tiefpunkt: Dem mit Mühe abgewendeten Partieverlust folgte in der Pressekonferenz ein kleiner Nervenverlust. "Ich hab's vermasselt und hatte Glück, nicht zu verlieren", gestand Carlsen zunächst wortkarg. Als die Moderatorin nachfragte, an welcher Stelle genau er sich im Vorteil gewähnt habe, entlud sich Carlsens Frust. "Ich bin der Einzige, der hier auf irgendetwas spielen kann", zischte er. "Meine Position ist besser. Da gibt es nichts zu erklären."

Anschließend versuchte er doch noch, seine Vorteile auf dem Brett irgendwie in Worte zu fassen, bevor er zunehmend verstummte. Während Karjakin wie immer freundlich und entspannt antwortete, ersehnte der Weltmeister, offensichtlich müde und genervt, das Ende der Fragerunde herbei.

Am Freitag wirkte Carlsen nach seiner "brillant" (Karjakin) vorbereiteten Eröffnung in der sechsten Partie schon wieder besser gelaunt und erläuterte, weshalb er sich entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten mit einem frühen Remis begnügte: "Ich fühlte, heute ist nicht der Tag ist, um nach großen Sachen Ausschau zu halten." Der robuste Widerstand seines Herausforderers hat Carlsen offenbar nachdenklich gemacht. Auch wenn er den steigenden Druck herunterspielt: "Solange ich im Match nicht zurückliege, ist es okay." Er sei nicht erfreut über seine Fehler, aber bei den Partien handele es sich um "ernsthafte Kämpfe, und wenigstens darüber freue ich mich".

Die siebte von zwölf zu spielenden Partien eröffnet Karjakin am Sonntag wieder mit den weißen Figuren.

© SZ vom 20.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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