Schach-WM:Karjakin entgeistert die Beobachter

Lesezeit: 3 min

"Fantastisch": Herausforderer Sergej Karjakin (links), 26, über sein Befinden. "Schlampig": Titelträger Magnus Carlsen, 25, über sein Spiel. (Foto: Seth Wenig/AP; Peter Foley/dpa)

Die Abwehrkünste des Herausforderers sind für Weltmeister Magnus Carlsen bei der Schach-WM erstaunlich bedrohlich. Sogar von "Folter" ist die Rede.

Von Martin Breutigam, Now York/München

Noch hat Sergej Karjakin nicht angedeutet, wie er Schachweltmeister Magnus Carlsen bezwingen könnte. Exakt null Gewinnchancen erspielte sich der russische Herausforderer in den bisherigen vier WM-Partien im New Yorker Fulton Market Building. Trotzdem sagte Karjakin nach der vierten Runde mit leuchtenden Augen, er fühle sich "fantastisch". Was man ihm abnahm, war er doch zum zweiten Mal nacheinander auf wundersame Weise dem gefürchteten Griff des Norwegers entkommen.

Karjakins Künste waren nach den beiden Begegnungen ein großes Thema: Die norwegische Verdens Gang verglich ihn mit dem Entfesselungskünstler Houdini, in den sozialen Netzwerken wurde gewitzelt, Russlands Staatspräsident Wladimir Putin werde den 26-Jährigen bestimmt bald zum Verteidigungsminister ernennen. Karjakins Antwort darauf: "Das mache ich gerne." Dabei lächelte er.

Statt im Bett 13 Stunden am Brett: Für manche ist das "Schach-Folter"

Der Titelverteidiger war nach "13 Stunden Schach-Folter", so der norwegische TV-Sender NRK, weniger gut gelaunt. "Das ist nicht der Standard, auf dem ich sein will", sagte Magnus Carlsen: "Ich dachte, dass das Endspiel einfach gewonnen ist, doch ich habe schlampig gespielt. Mir wurde ein großer Vorteil auf dem Silbertablett serviert, aber ich habe unterschätzt, dass er eine Festung errichtet hat."

Den zwei vergleichsweise drögen Remis zu Beginn der WM folgten zwei weitere Unentschieden, allerdings zwei höchst spannende und anstrengende. Vor der fünften Partie an diesem Donnerstag (live ab 20 Uhr bei sz.de/schachticker) steht es 2:2 - und beide Kontrahenten benötigten den einen Ruhetag davor dringend. Die Runden drei und vier dauerten jeweils mehr als sechseinhalb Stunden. In beiden stand Carlsen knapp vor einem Sieg. In beiden aber offenbarte der 25-Jährige bei der Verwertung seiner Chancen ungewohnte Nachlässigkeiten. "Es ist kein Desaster, der Kampf steht noch ausgeglichen. Beim nächsten Mal muss ich es besser machen", sagte Carlsen selbstkritisch.

Besonders ärgerte ihn nach der vierten Partie das Vorgehen mit dem f-Bauern im 45. Zug, den er als "sehr, sehr schlampig" bezeichnete. Mit diesem scheinbar einfachen Gewinnzug verdarb Carlsen endgültig seine Siegchancen. In jenem Moment habe er nicht im Geringsten erwogen, dass sein Gegner eine Festung einnehmen könnte. "Ich dachte, ich habe einen Freibauern, der König dringt über die weißen Felder am Damenflügel ein - und das war's", sagte Carlsen. Dass sich Karjakins weiße Festung trotz aller Nachteile als unüberwindbar erweisen sollte, vermochte sich Carlsen aus Erfahrungen nicht vorzustellen. "Im Allgemeinen ist mein Glaube an Festungen nicht besonders groß", sagte Carlsen. Doch diesmal habe er diese Möglichkeit unterschätzt.

Weshalb Karjakin ohne Not in höchst bedenkliche Lagen gerät und erst dann beginnt, weltmeisterlich aufzuspielen, ist dem Russen selbst ein Rätsel. "Erst habe ich eine ganz normale Position, und nur drei Züge später steht es klar schlechter", staunte er. Dieses Muster müsse er für die nächsten Tage irgendwie aus dem Kopf bekommen.

Schon in der dritten Partie war der Herausforderer aus dem Nichts an den Abgrund manövriert worden. In der vierten Partie träumte er davon, endlich mal einen Angriff zu entwickeln. Wie in der zweiten Runde wählte Karjakin die spanische Partie, und im 18. Zug schlug er mit seinem Läufer einen Bauern vor Carlsens König. Hinterher zeigte er ein paar Varianten, die alle vielversprechend aussahen - bloß eines hatte Karjakin überhaupt nicht bedacht: Dame c6, auf den ersten Blick bloß ein kleiner Zwischenzug von Carlsen. In dem Moment aber habe er gemerkt, "was ich angerichtet habe", erklärte Karjakin, "danach musste ich mich verteidigen, was natürlich sehr unangenehm war".

Die Art und Weise, wie er sich zu verteidigen begann, entgeisterte zunächst manche Beobachter: Karjakin tauschte seinen prinzipiell guten weißfeldrigen Läufer ab, der normalerweise als die Seele der spanischen Partie gilt. Als Erklärung gab Karjakin an: "Mir gefiel die Stellung ohnehin nicht." Letztlich erwies sich der Zug als Glücksgriff. Auch dank des undogmatischen Abtauschs gelang es ihm, Carlsen vor Probleme zu stellen.

Schach-Liveticker
:Carlsen vor dem Sieg: Der Tie-Break der Schach-WM live

Wer wird neuer Schach-Weltmeister - Titelverteidiger Magnus Carlsen oder Herausforderer Sergey Karjakin? Verfolgen Sie den Tie-Break im Liveticker.

Karjakin gibt sich selbstbewusst

"Er ist gut", sagte Carlsen mit Blick auf Karjakins Verteidigungskünste. Diese sind auch ein Thema bei Kollegen, die aus der Ferne nach New York blicken, wie Viswanathan Anand, der von Carlsen 2013 als Weltmeister abgelöst worden war. Anfang der Woche gewann Anand ein Turnier in St. Louis/USA, wo er sich am Abend gemeinsam mit anderen Teilnehmern die dritte WM-Partie ansah. Anschließend postete Anand eine Videobotschaft. "Ein sehr, sehr interessantes Endspiel, das Karjakin um Haaresbreite gerettet hat, aber er ist ja ein sehr guter Verteidiger. Wenn Magnus so den Druck aufrechterhalten kann, wird es sehr spannend."

Auch Boris Gelfand, der Anand bei der WM 2012 knapp unterlag, will von seiner Wahlheimat Israel aus möglichst viele Partien verfolgen. Auf Anfrage erklärt er, weshalb er einen Sieg des Herausforderers für denkbar hält: "Sergej könnte exzellente Chancen bekommen, wenn er eine Partie gewinnt und die Führung übernimmt." Schließlich sei Karjakin ein klassischer Spielertyp mit großen Verteidigungsqualitäten.

Karjakin, der auf der Krim aufwuchs, seine ukrainische Staatsbürgerschaft vor sieben Jahren aber gegen die russische tauschte, weil er in Moskau anschließend eine Wohnung, ein Stipendium und gute Trainer erhielt, gibt sich nach einem Drittel des auf zwölf Partien angelegten Vergleichs selbstbewusst. "Ich bin hergekommen, um die Krone des Schachs zurück nach Russland zu holen", sagt er, "da gehört sie ja hin."

© SZ vom 17.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusMagnus Carlsen
:"Den Gegner langsam erwürgen"

Magnus Carlsen spielte mit 13 Remis gegen Garri Kasparow, mit 25 ist er Schach-Weltmeister. Ein Gespräch über die Kunst, sich unter Druck schnell zu entscheiden - und was sein Spiel mit einer Boa Constrictor gemein hat.

Interview von Hannes Vollmuth

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: